Interview

»Antisemiten kennen ihre Hassobjekte gar nicht«

70 Jahre alt und nach wie vor gefragt: der Schauspieler Burghart Klaußner während der Frankfurter Buchmesse 2018 Foto: imago images / teutopress

Herr Klaußner, der Film »Das weiße Band« von 2009 machte Sie international einem breiten Publikum bekannt. Sie spielten in diesem Film einen protestantischen Pfarrer, der seine Kinder mit Härte erzieht, selbst kleine Vergehen mit Prügeln bestraft und streng auf tugendhaftes Verhalten achtet …
Mir war nach dem Lesen dieses Drehbuchs vollkommen klar, was das für ein Mann war, weil ich solche Menschen kennengelernt habe. Auch mein Vater hatte Züge davon. Gerade im Wilhelminismus, in dem dieser Film spielt, herrschte ein unglaublich verqueres Denken. Nahezu nichts wurde nach Anschauung entschieden und nahezu alles nach Einbildung und Ideologie. Auf die Handlung bezogen: Die Kinder würde man lieben, aber um sie »anständig« durch dieses Leben zu bringen, muss man sie entsprechend züchtigen, damit sie nicht auf falsche Gedanken kommen.

Hat es Sie überrascht, dass der Film in Israel ein unglaublicher Publikumserfolg war, wie kein anderer deutscher oder österreichischer Film jemals zuvor?
Das überrascht mich allerdings. Das habe ich nicht gewusst.

Der israelische Filmkritiker Yair Raveh schrieb: »Es ist eine Geschichte über Kinder aus Deutschland im Jahr 1914. Jene Kinder, die 20 Jahre später erwachsen sind und Hitler ins Amt bringen werden; (…) Die Kinder, die nicht mehr hinter dem Rücken der Erwachsenen die Schwachen missbrauchen, sondern es als Teil offizieller Politik deklarieren.«
Dieser Zusammenhang ist unübersehbar. Die Kinder im Film, von denen in diesem Zitat die Rede ist, sind Täter verschiedener Verbrechen, die nicht aufgeklärt werden. Generell aber glaube ich nicht, dass es so einfach ist, die Quellen des Nationalsozialismus zu benennen. Eine Ursache unter anderen war sicherlich der Zusammenbruch einer jahrtausendelang fest geglaubten Ordnung, wie die des Feudalismus, der in kurzer Zeit die Gesellschaft ins Wanken brachte, mit dem Experiment Demokratie überforderte und so die schlimmsten Ausprägungen des Zivilisationsbruches ermöglichte. Das ging einher mit dem Zusammenbruch fast aller Werte, die man bis dahin als sicher geglaubt hatte.

Wann haben Sie und unter welchen Umständen von dem erfahren, was man später »Holocaust« nannte?
Das sickerte wie bei manchem meiner Generation auch bei mir so langsam durch. Mit absoluter Klarheit habe ich durch die Berichterstattung zu den Auschwitz-Prozessen davon erfahren. Da war ich 14 Jahre alt. Damals stand nicht so sehr die ungeheure Zahl der Opfer im Vordergrund als vielmehr die Art und Weise, wie die bestia­lischen Sadisten vorgingen. Das ging mir sehr nahe.

Können Sie sich erinnern, wann Sie wissentlich zum ersten Mal einem Juden oder einer Jüdin begegnet sind?
Die Antwort fällt mir nicht leicht, denn ich habe das nie für mich so apostrophiert. Aber ich erinnere mich an einen Jungen namens Ray – er war der Freund eines Freundes –, der im Studentendorf in Schlachtensee lebte. Von ihm erfuhr ich, dass er Jude sei, bevor ich ihn kennenlernte. Ray hatte lange schwarze Haare und war ein eigenwilliger Künstlervogel aus New York. Er war Kosmopolit, und er war witzig. Eigenschaften, von denen ich später erfahren sollte, dass sie angeblich jüdisch seien. Später bin ich anderen Juden begegnet, wie Peter Zadek zum Beispiel, der auch auf sein Jüdischsein hinwies, sodass ich eher darauf achtete. Aber wirklich wichtig war es mir nie. Deshalb ist mir dieser neuerdings wieder aufkommende Antisemitismus vollkommen fremd, und ich habe das Gefühl, dass Leute die sich derart äußern, ihre Hass­objekte gar nicht kennen.

Vor vier Jahren spielten Sie den jüdischen Staatsanwalt Fritz Bauer, der ab 1963 Chefankläger bei den Frankfurter Auschwitz-Prozessen war. Wie haben Sie sich auf diese Rolle vorbereitet?
Es ist ein ganzes Leben, das einen auf eine solche Rolle vorbereitet. Schließlich hatte ich hier nicht zum ersten Mal von den Auschwitz-Prozessen gehört. Es war noch nicht einmal das erste Mal, dass ich von Fritz Bauer gehört hatte, wie etwa mein Regisseur Lars Kraume, der ihn gar nicht kannte. Aber Kraume gehört auch nicht meiner Generation an, die an der Universität zornige alte Männer wie Bloch, Adorno und eben auch Fritz Bauer zu verehren lernte, die die besseren Vorbilder waren als irgendwelche jungen, selbst ernannten maoistischen »Revolutionäre«. In der Vorbereitung auf diesen Film habe ich aber juristisch einiges dazugelernt. Nämlich wie die junge Bundesrepublik und ihr Parlament versucht hatten, die Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu umgehen und die Täter möglichst zu schützen. Deshalb war Bauer ja auch dieser Einzelkämpfer, der er war.

Haben Sie sich historische Filmaufnahmen mit Bauer angesehen?
Natürlich, und ich muss sagen, wenn man zum ersten Mal sieht, wie er sich verhält und spricht, hält man es schier nicht für möglich, wie Angriff und Verteidigung in einem Körper einen derart unentwirrbaren Ausdruck bilden.

Es handelt sich ja um einen inneren Konflikt, den Bauer auszutragen hatte zwischen objektivem Ankläger des Staates und – als Jude – subjektivem Vertreter der Opfer …
Und man kommt dann unweigerlich zu der Frage der enttäuschten Rückkehr-Euphorie des einstigen Emigranten Fritz Bauer.

Das Buch von Oliver Guez, welches die Vorlage zu diesem Film bildete, hieß »Heimkehr der Unerwünschten«.
Richtig, und es behandelte die Frage, weshalb Juden überhaupt nach Deutschland zurückkehren wollten. Bauer wollte wahrscheinlich einfach nur nach Hause, er war schließlich Deutscher. Außerdem war er als Sozialdemokrat ein stark politisch denkender Mann, der auch Aufgaben vor sich sah – die Auschwitz-Prozesse zum Beispiel.

Der Film trägt den Titel »Der Staat gegen Fritz Bauer«. Es geht darum, dass Bauer, nachdem ihm ein Informant die Adresse von Adolf Eichmann in Argentinien zugespielt hatte, nicht den eigenen, sondern den israelischen Geheimdienst informiert. Sie sagen im Film den Satz: »Wenn wir etwas für unser Land tun wollen, so müssen wir es in diesem Fall verraten!«
Bauer wusste ja damals schon, was heute jeder weiß, dass alle Ämter, bis hin zur »Organisation Gehlen« – der Vorläuferorganisation des BND – mit Nazis durchsetzt waren und wie man sich gegenseitig schützte. Wie die »Rattenlinie« nach Südamerika möglich war, über die vom Vatikan bis zu den Amerikanern die Hand gehalten wurde. Das alles lässt sich inzwischen auch in einem weiteren Buch von Oliver Guez mit dem Titel »Das Verschwinden des Josef Mengele« nachlesen ...

... das Sie als Hörbuch eingesprochen haben …
Jedenfalls tat Fritz Bauer mit dieser Entscheidung, die Israelis zu informieren und nicht den BND, sehr recht.

Bauer wollte Eichmann ursprünglich in Deutschland vor Gericht stellen.
Das war ja auch verständlich aus der Überlegung heraus, das Thema in Deutschland in voller Breite auf die Tagesordnung zu bringen. Bauer hatte damit völlig recht, denn die Aussagen von Eichmann in Israel und seine Schilderungen der Verbrechen sind hierzulande ja schon wieder weitgehend unbekannt. Der Prozess, der wirklich aufklärerisch gewirkt und viel ans Licht gebracht hat, aber eben weit weg stattfand und nur in der Berichterstattung hin und wieder auftauchte, wäre in Frankfurt anders gelaufen.

Dort hat Bauer das Thema »Holocaust« durch die Auschwitz-Prozesse auf die Tagesordnung gesetzt.
Aber die wurden in unserem Film nicht thematisiert, sie fanden später statt.

Sie haben einige Szenen in Israel gedreht. War dies Ihr erster Aufenthalt dort?
Ja, zu besorgniserregend schienen mir vorher die Nachrichten über die Sicherheitslage. Neugierig war ich aber schon lange, auch durch die Bekanntschaft mit Sayed Kashua, David Grossman und anderen Literaten. Außerdem hatte ich den wunderbaren israelischen Spielfilm »Fill the Void« oder deutsch »An ihrer Stelle« von Rama Burshtein als Mitglied der Jury in Sao Paulo ausgezeichnet. Es gab also Verlockungen genug.

Wie haben Sie Israel als jüdischen Staat empfunden?
Ein Land von enormer Naturschönheit, von großer Lebendigkeit und sehr freundlichen Menschen, deren unterschiedliche Herkunft vollkommen ununterscheidbar ist. Es gab aber auch Szenen, die mich beunruhigten. Als zum Beispiel ein israelischer Soldat privat mit seinem Gewehr mitten unter vielen Menschen in der voll besetzten Straßenbahn fuhr. Es gab einen zutiefst bewegenden Besuch in Yad Vashem, den ich aber abbrechen musste, da ein Attentat im Westjordanland die Rückkehr ins Hotel erforderte. Auch das war eine Erfahrung. Insgesamt waren die drei Tage natürlich viel zu kurz, weshalb ich sicher noch einmal dorthin zurückkehren werde.

Sie haben vorhin den wieder aufkeimenden Antisemitismus als irrational charakterisiert. Dennoch wird er von Juden in diesem Land als ganz real empfunden ... Ja, das ist leider so.

Was sagen Sie den vor allem jungen Juden in Deutschland, die dieses Land, in dem sie geboren wurden, zunehmend als »Feindesland« – um den Begriff von Fritz Bauer zu gebrauchen – empfinden?
Da kann ich nur sagen, dass mir das leidtut. Ich finde es unerhört und beschämend. Da genügt es von politischer Seite nicht, einen Antisemitismusbeauftragten einzusetzen. Die Bekämpfung des Antisemitismus ist eines der ganz großen gesellschaftlichen Themen und gehört jeden Tag auf die Tagesordnung. In einem vernunftbegabten Staatswesen wäre das schon deshalb eine Selbstverständlichkeit, weil es in einer Gesellschaft, in der Antisemitismus eine Rolle spielt, gar keine Zukunft gibt. Denn wenn die Rationalität so vor die Hunde geht, wird auch alles andere mit in den Abgrund gezogen.

Mit dem Schauspieler sprach Gerhard Haase-Hindenberg.

Burghart Klaußner lebt in Hamburg. Er ist Schauspieler, Theaterregisseur und Sänger. Für seine Rollen in »Das weiße Band« (2009) und »Der Staat gegen Fritz Bauer« (2015) erhielt er jeweils den Preis der deutschen Filmkritik als bester Darsteller. In »Der Vorleser« (2009) spielte er neben Kate Winslet, die eine ehemalige KZ-Aufseherin darstellte, einen Richter. Am 13. September 1949 in Berlin geboren und während des Kalten Krieges dort aufgewachsen, erlebte Klaußner schon als Kind politische Konflikte. Auch zur Beschäftigung mit jüdischen Themen wurde er nicht erst durch Rollenangebote animiert.

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