Als ich 13 Jahre alt war, gab meine Mutter mir einen Band aus dem großen Bücherregal im Wohnzimmer. Ein ernst zu nehmender Foliant mit blau ledernem Rücken und hellgrauen Deckeln. Der Titel? Désirée. Die Autorin? Hat mich nicht interessiert. So wie Bücher generell nicht. Aber dem Hausfrieden zuliebe fing ich zögernd an zu lesen – und hörte nicht mehr auf. Denn meine Mutter, der im gleichen Alter die Buddenbrooks aufgezwungen wurden, hatte offensichtlich aus ihrem Leid gelernt.
Diese Heldin war so alt wie ich, redete so wie ich und wollte von den Erwachsenen endlich ernst genommen werden. So wie ich. Ich verstand sie. Sie war irgendwie cool. Und dann trifft sie auch noch einen jungen General – die Geschichte beginnt in Marseille nach der Französischen Revolution – mit blitzenden Augen. Natürlich verlieben sie sich. Aber dann geht alles schief, und Désirée fährt heimlich nach Paris, um ihn zurückzugewinnen, was auch nach hinten losgeht. Aber ein Typ namens Bernadotte verhindert, dass sie sich in die Fluten der Seine stürzt. Ach, und der General heißt Napoleone Buonaparte. Jedenfalls zu Beginn.
Désirée war mein Bridgerton. Allerdings anders als Bridgerton konnte ich es immer wieder goutieren. Es ist so gut recherchiert und komponiert, funktioniert auf so vielen Ebenen und liest sich trotzdem in einem Rutsch, sodass es in meiner persönlichen Lebensbibliothek steht. Gute Bücher wachsen mit, hat mein Großvater immer gesagt. Désirée war Ratgeber und Medizin. Als meine beste Freundin üblen Liebeskummer hatte, habe ich ihr das Buch verordnet.
»Désirée« war mein »Bridgerton«. Allerdings anders als »Bridgerton« konnte ich es immer wieder goutieren.
Nun haben Désirée und ich uns wiederentdeckt, und diesmal ist mir endlich der doppelte Boden aufgefallen. Nach den ersten Seiten habe ich mich gefragt, wer eigentlich diese Autorin Annemarie Selinko ist, die von der ersten Liebe schreibt und gleichzeitig von politischer Willkür, von Modefragen und der Bedeutung der Menschenrechte, die Frankreich der Welt geschenkt hat, von anstrengenden Geschwistern und Opportunismus der Eliten, von goldenem Lidschatten und einem Volk, das nach dem Verlust der Menschlichkeit so tut, als sei nichts gewesen.
Selinko wurde 1914 als Tochter einer jüdischen Familie in Wien geboren, war früh schreibverrückt, wurde Journalistin und veröffentlichte ihren ersten Roman mit 23. Ihr Name wurde in einem Atemzug mit dem von Vicky Baum genannt. Zum Glück ging Selinko 1938 der Liebe wegen nach Dänemark, zum Unglück ihre Mutter und ihre Schwester nicht.
Gleich zu Beginn von Désirée, das 1951 erschien, schreibt Selinko von den Brüdern Levi, die nach der Verkündung der Menschenrechte endlich gleichberechtigte Bürger sind. Und Désirées Vater sagt: »Wann immer und wo immer in späterer Zeit Menschen ihren Brüdern das Recht der Freiheit und Gleichheit nehmen – niemand wird von ihnen sagen: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Meine kleine Tochter, seit der Verkündung der Menschenrechte wissen sie es nämlich genau.« Wen wundert es da, dass die deutsche Nachkriegspresse Désirée als »Frauenliteratur« abtun wollte.
Trotzdem wurde Selinkos letzter Roman zum Welterfolg und in 25 Sprachen übersetzt. 1954 kam Hollywoods Cinemascope-Ausgabe in die Kinos, mit Jean Simmons als Désirée und Marlon Brando als Napoleon. Selinko starb 1986 in Dänemark. Aber dieses Buch, das mit den Menschenrechten beginnt und endet, über eine Frau, die ihr Leben lang eine renitente Teenagerin bleiben durfte, sogar als sie auf dem Thron sitzt, wird uns alle überleben. So wie der universelle Anspruch auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.