Literatur

Warum Anna Seghers wieder gelesen werden sollte

Anna Seghers Foto: Imago

Literatur

Warum Anna Seghers wieder gelesen werden sollte

Vor 120 Jahren wurde die Schriftstellerin geboren. Nun erinnern zwei neue Biografien an sie

von Marko Martin  18.11.2020 11:09 Uhr

Jeanette sei als Vorname doch viel zu französisch, beschied vor 120 Jahren ein rheinländischer Beamter in Mainz den Kunsthändler Isidor Reiling. Dieser hatte zuvor die Geburtsurkunde seiner am 19. November 1900 zur Welt gekommenen Tochter ein wenig verspätet unterschrieben – keine Signatur am Schabbat. Bezüglich des Vornamens aber zeigte sich der religiöse Vater kompromissbereit: Aus Jeanette wurde Netty Reiling.

In den 20er-Jahren nannte sich die junge Frau dann Anna und wählte den Nachnamen Seghers – als Hommage an einen holländischen Maler, der einst Rembrandt ins­piriert hatte. Für ihr literarisches Debüt Aufstand der Fischer von St. Barbara erhielt sie bereits 1928 den renommierten Kleist-Preis; nur wenig später wird Anna Seghers dann aus der jüdischen Gemeinde austreten und sich stattdessen bei der Kommunistischen Partei einschreiben, und zwar auf lebenslang.

Unverbrüchlich hielt sie der Sowjetunion die Treue, die »Das siebte Kreuz« verboten hatte.

Welches Bild jener Anna Seghers soll es also sein? Zeitlebens häufig fotografiert und überdies in den Memoiren von Zeitgenossen wie Arthur Koestler oder Hans Sahl intensiv präsent als quasi ein lebendiges Oxymoron – die transparent Enigmatische, die gerechtigkeitsliebende Parteigetreue –, besteht das Rätsel bis heute fort.

Die 1933 aus Nazi-Deutschland geflüchtete Schriftstellerin, die mit ihrem Roman Das siebte Kreuz schon ganz frühzeitig die Schrecken des sogenannten Dritten Reichs und das hoch ambivalente Alltagsverhalten der sogenannten »einfachen Menschen« beschrieben hatte, wurde nicht zuletzt dank der Hollywood-Verfilmung (mit Spencer Tracy als geflüchtetem KZ-Häftling Georg Heisler) weltberühmt.

SOWJETUNION Dennoch hielt sie unverbrüchlich gerade jener Sowjetunion die Treue, in der im Sommer 1939 der Vorabdruck ihres Romans gestoppt worden war. In Zeiten des Hitler-Stalin-Paktes passte Antifaschismus plötzlich nicht mehr ins Bild. Ein paar Jahre später brachen dann amerikanische Soldaten mit einer Ausgabe von The Seventh Cross im Tornister auf, um Europa zu befreien, doch Anna Seghers – nach Fluchtstationen in der Schweiz, Paris und im gefährdeten Marseille seit 1941 mit Mann und Kindern in Mexiko-Stadt lebend – übersiedelte 1947 nach Ost-Berlin, in den sowjetischen Sektor. Ihr Vater Isidor war bereits 1940 verstorben, die Mutter Hedwig, für die Anna Seghers von Frankreich und Mexiko aus erfolglos um Ausreisevisa gekämpft hatte, war 1942 von Mainz in ein KZ bei Lublin deportiert worden, wo sich ihre Spur verlor.

Genossin Anna Seghers, von 1952 bis 1978 Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes, Stalin-Preisträgerin und (im singend rheinländischen Tonfall) Rechtfertigerin des Berliner Mauerbaus, war dann in den DDR-Medien – inzwischen weißhaarig, mit strengem Dutt, doch noch immer mit diesem sanften Lächeln im markant faltenreichen Gesicht – auf allerlei Tribünen zu sehen, im offenbar angeregten Gespräch mit Ulbricht oder Honecker. Somit eine Staatsdichterin, die – wie sich Marcel Reich-Ranicki, einer der besten Kenner ihres Werks, erinnert – sogar hinnahm, dass in den 50er-Jahren ihre zuvor im mexikanischen Exil geschriebene Erzählung »Post ins gelobte Land« wegen »zionistischer Tendenzen« nicht veröffentlicht wurde und erst später wieder Eingang finden durfte in ihre Erzählbände, die freilich in wechselnden Zusammenstellungen wieder und wieder aufgelegt wurden in jener DDR? (Freilich gab es auch im Westen keinen »Seghers-Boykott«, wo die Autorin im Luchterhand-Verlag eine zweite publizistische Heimat gefunden hatte.)

Noch einmal: Welches Seghers-Bild soll es sein? Oder besser noch, nun zum 120. Geburtstag und fast vier Jahrzehnte nach ihrem Tod 1983 in »Berlin/Hauptstadt der DDR«: Welche Bilder (im Plural) wären zu beschreiben, an welche ihrer Erzählungen und Romane unbedingt zu erinnern? Wer eine detailreiche, mit zahlreichen Fotografien versehene Schilderung von Anna Seghers’ mexikanischer Exilzeit sucht und sich dabei nicht stört an einem geradezu bigotten Ausblenden politischer Widersprüche, greife zum Buch von Monika Melchert, der langjährigen Leiterin des Seghers-Museums in Berlin-Adlershof: Im Schutz von Adler und Schlange. Anna Seghers im mexikanischen Exil. Volker Weidermanns soeben erschienenes Buch Brennendes Licht. Anna Seghers in Mexiko wagt dagegen ungleich mehr – und gewinnt: Wohl niemals zuvor ist die ideologische Vereisung einer Schriftstellerin, deren Prosa doch noch heute vibriert in präziser Emphase, derart eindringlich und fair beschrieben worden. Denn war es nicht pure Angst, die Anna Seghers ihrem wohl besten Roman, der geradezu kafkaesk-existenzialistischen Flucht- und Exilgeschichte Transit, eine Schlusspassage hinzufügen ließ, die dann auch die Dogmatiker eines »Sozialistischen Realismus« gerade noch so zufriedenstellen konnte?

ÜBERLEBENDE Hinzu kam die Sorge der jüdischen »Westemigrantin«, in einer von stalinhörigen Moskau-Heimkehrern politisch und intellektuell dominierten DDR schlecht angesehen zu sein. Noch im hohen Alter verweigerte sie deshalb die Solidarität mit dem 1976 ausgebürgerten Wolf Biermann, für den sich in einer Petition damals auch Stefan Heym, Jurek Becker und Stephan Hermlin eingesetzt hatten – alle fünf säkulare Juden und Überlebende, mit jeweils dann ganz eigener Nachkriegs-Biografie.

Vor allem Seghers’ »karibisches« Spätwerk verdient eine Wiederentdeckung.

Die sensible Vorurteilslosigkeit, mit der Volker Weidermann schreibt und dabei auch Seghers’ wohl persönlichste Erzählung »Der Ausflug der toten Mädchen« wiederentdeckt, ermutigt nicht zuletzt zur Neulektüre vieler anderer Bücher. Gerade nämlich im selbstbezüglichen Deutschland könnte das »karibische« Spätwerk von Anna Seghers zeigen, wie literarisch so etwas geht: ohne Übergriffigkeit, ohne parteikonforme Typologie, vor allem aber ohne jeden kulturalistischen Kitsch einzutauchen in die Welt von weißen Sklavenhaltern, Aufsteiger-Mulatten und gedemütigten, aber auch revoltierenden Schwarzen auf Haiti und Jamaika in den Jahren der Französischen Revolution. Und so leuchten Erzählungen wie »Das Licht auf dem Galgen«, »Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe« oder »Die Hochzeit von Haiti« weiterhin nicht nur in Kleist’scher Lakonie, sondern auch in jener strengen Zärtlichkeit, die späterhin erst in den Büchern der ebenfalls jüdischen Nadine Gordimer wiederzufinden sein wird. Wie viel Gründe, an Anna Seghers zu erinnern!

Monika Melchert: »Im Schutz von Adler und Schlange. Anna Seghers im mexikanischen Exil«. Quintus, Berlin 2020, 199 S., 20 €

Volker Weidermann: »Brennendes Licht. Anna Seghers in Mexiko«. Aufbau, Berlin 2020, 186 S., 18 €

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