Emanzipation

Angriff auf den Liberalismus

Die Geschichte von Benjamin Disraeli ist ein historisches Beispiel für eine aktuelle Erkenntnis

von Matthias Oppermann  10.01.2024 17:13 Uhr

Benjamin Disraeli (1804–1881) war Schriftsteller und zweimal britischer Premierminister. Foto: picture-alliance / /HIP

Die Geschichte von Benjamin Disraeli ist ein historisches Beispiel für eine aktuelle Erkenntnis

von Matthias Oppermann  10.01.2024 17:13 Uhr

Russell Kirk war konsterniert. Auf einer Konferenz, irgendwann in den 80er-Jahren, legte der amerikanische Historiker und Publizist seine Vorstellung eines Gemeinwesens auf christlicher Grundlage dar, als ihn ein Kollege brüsk unterbrach: »Was werden Sie mit uns Juden machen?« Walter Berns hatte Kirk kalt erwischt.

Denn erstens hatte sich Kirk, einer der Vordenker des traditionalistischen Konservatismus in den USA, diese Frage nicht gestellt. Und zweitens wusste er so gut wie alle anderen Anwesenden, dass Berns gar kein Jude war. Der Professor für politische Philosophie und Verfassungsrecht war Mitglied der Episkopalkirche, dem amerikanischen Ableger der anglikanischen Kirche, ein typischer WASP, ein »White Anglo-Saxon Protestant«.

Als Kirk sich gesammelt hatte, murmelte er, christlich bedeute nicht, dass die Juden oder irgendeine andere Religionsgemeinschaft ausgeschlossen werden sollten. Berns genügte das nicht. So beantwortete er die Frage selbst. Der neokonservative Schüler von Leo Strauss verwies darauf, dass die amerikanische Verfassung eine bessere Lösung kenne als Kirk, nämlich die Trennung von Kirche und Staat. Die Gründerväter hätten einen sicheren Hafen für alle Menschen schaffen wollen. Seine Grundlage sei nicht das Christentum, sondern die Gewissensfreiheit, ein liberales Prinzip, das aus John Lockes A Letter Concerning Toleration von 1689 hervorgehe.

Auf dem Geist dieser Schrift beruhte auch die allmähliche rechtliche Emanzipation derjenigen, die in Großbritannien nicht einer der Staatskirchen angehörten. Seit 1829 konnten Katholiken Parlamentsmitglieder werden und alle öffentlichen Ämter bekleiden.

Carl Schmitt nannte Benjamin Disraeli einen »Eingeweihten« und »Weisen von Zion«.

Für die Juden kam dieser Schritt mit dem Jewish Relief Act von 1858. Der Bankier Lionel de Rothschild zog im selben Jahr als erster Jude ins House of Commons ein. Die gesellschaftliche Diskriminierung der Juden oder von Personen, die als Juden wahrgenommen wurden, war in Großbritannien schon Jahrzehnte zuvor zurückgegangen.

Ein getaufter Jude an der Spitze der Konservativen Partei

1846 ebnete sich mit Benjamin Disraeli ein getaufter Jude den Weg an die Spitze der Konservativen Partei. Zweimal, 1868 und von 1874 bis 1880, diente er als Premierminister. Der französische Politiker und Historiker François Guizot kommentierte Disraelis Erfolg 1848 mit den Worten: »Ich glaube die Tatsache, dass Sie der Parteiführer der Tories sind, ist der größte Triumph, den der Liberalismus jemals errungen hat.«

Bedeutet das, dass die Juden in besonderer Weise vom Siegeszug des Liberalismus in der westlichen Welt profitiert haben? Formal betrachtet, zogen die Juden nicht mehr Nutzen aus dem Liberalismus als andere religiöse Gruppen, die in ihrem jeweiligen Staat eine Minderheit waren.

Aber da die Juden keinen Staat hatten, in dem sie die Mehrheit stellten und über die Gesetze bestimmten, waren sie in besonderer Weise auf Freiheiten angewiesen, die nur das liberale System garantieren kann. Antisemiten aller Art haben daraus den Schluss gezogen, es gebe eine notwendige Verbindung zwischen Judentum und Liberalismus, bis zu dem Phantasma, die Juden seien nicht nur Urheber des Liberalismus, sondern auch die heimlichen Herrscher liberaler Staaten.

Die Juden, schrieb der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt 1928, seien aufgrund ihrer Minderheitensituation Bannerträger der »Ideen von 1789« und müssten auf der »Heiligkeit liberaler Prinzipien« bestehen. Obwohl er von der Französischen Revolution sprach, betrachtete er nicht Frankreich, sondern die »angelsächsische« Welt als das Zentrum des ihm verhassten Liberalismus. Niemand verkörperte ihn in seinen Augen besser als Benjamin Disraeli, den er trotz Taufe als Juden betrachtete.

Der Atheist pflegte eine eigenwillige jüdische Identität

Das war nicht völlig falsch, denn der Atheist Disraeli verteidigte als Tory die Church of England, pflegte aber gleichzeitig eine eigenwillige jüdische Identität. In jungen Jahren konstruierte er sich eine Herkunft, die ihn zum Nachfahren sefardischer Landbesitzer in Spanien machte. Das war eine Art Vorwärtsverteidigung gegen antisemitische Anfeindungen. Seine Abstammung, so erklärte er, sei edler als die der britischen Aristokraten.

In seinem Roman Tancred oder Der neue Kreuzzug von 1847 findet sich der Satz: »Das Christentum ist Judentum für die Massen, aber es bleibt Judentum.« Aus Schmitts Sicht steckte darin der Anspruch des Judentums auf Weltherrschaft. Und er bildete sich ein, dass Disraeli diesen angeblichen Anspruch mit dem liberalen britischen Imperialismus verband.

Auch Islamisten zeigen Antiliberalismus, Antisemitismus und Antiamerikanismus

Als der Premierminister, der Königin Viktoria zur Kaiserin von Indien hatte proklamieren lassen, war Disraeli in Schmitts Augen der Begründer eines Weltreichs, das »kein Völkerrecht« kannte, »sondern nur ein allgemeines Welt- und Menschenrecht«. In seinem 1942 erschienenen Buch Land und Meer schrieb er, Disraeli sei »ein Abravanel (…) des 19. Jahrhunderts« gewesen, »ein Eingeweihter, ein Weiser von Zion«. Er bemühte sich nicht einmal, die Anspielung auf die Protokolle der Weisen von Zion zu verpacken.

Disraeli war eine Schlüsselfigur für Schmitt, eine Art Begründer des »Universalismus der Mächte des liberaldemokratischen, völker­assimilierenden Westens«. Mittlerweile waren allerdings die Vereinigten Staaten in Schmitts Denken an die Stelle des britischen Weltreichs getreten. Seine Anglophobie erweiterte sich in einen allgemeinen Hass auf die »Angelsachsen«, vor allem aber auf das Amerika Franklin D. Roosevelts. Wie Hitler betrachtete er die Juden als die wahren Herrscher in Washington.

Schmitt war beileibe nicht der einzige deutsche Denker, der Antiliberalismus, Antisemitismus, Anglophobie und Antiamerikanismus zu einer einzigen Ideologie amalgamierte. Doch im Gegensatz zu den Autoren der Weimarer Republik, die etwas ungenau unter dem Begriff der »Konservativen Revolution« gefasst werden, lässt Schmitt sich nicht historisieren. Er war ein ernst zu nehmender Wissenschaftler und arbeitete nach 1945 weiter.

Sein Denken beeinflusste nicht nur Vertreter der politischen Rechten

Sein Denken beeinflusste nicht nur Vertreter der politischen Rechten. Die Neue Linke der 60er-Jahre stand nicht nur unter dem Einfluss Herbert Marcuses, sondern war auch fasziniert von Schmitts Liberalismuskritik, seinen Stellungnahmen gegen den bürgerlichen Parlamentarismus. Und der Antiliberalismus war nicht ohne den Antisemitismus zu haben, auch nicht ohne den Hass auf Amerika und den Westen.

Das alles lässt sich heute bei propalästinensischen Demonstrationen auf dem Campus amerikanischer Elite-Universitäten und an vielen anderen Orten beobachten. Auch im Denken der Islamisten begegnen wir derselben Mischung aus Antiliberalismus, Antisemitismus und Antiamerikanismus. Die geistigen Querverbindungen sind bekannt und vielfältig. Was folgt daraus?

Da die Feinde des Liberalismus Israel als Statthalter des von Amerika ausgehenden Universalismus betrachten und die Juden als dessen internationalen Agenten, lässt sich die Verteidigung des Westens nicht von derjenigen Israels und des Judentums trennen. Nicht jeder Angriff auf den Liberalismus ist ein Angriff auf das Judentum, aber jeder Angriff auf Israel oder das Judentum ist ein Angriff auf den Liberalismus. Fast scheint es, als sei die geistig-moralische Zukunft der westlichen Demokratien – in der Innen- wie der Außenpolitik – auf eine einfache Alternative geschrumpft: John Locke oder Carl Schmitt. Nicht nur Walter Berns, auch Benjamin Disraeli hätte sich für Locke entschieden.

Der Autor ist stellvertretender Leiter Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik und Leiter Zeitgeschichte der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin.

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