Wissenschaft

»Akademische Verkirchlichung«

Humboldt-Universität Berlin: protestantische, katholische, jüdische und islamische Theologie unter einem Dach? Foto: dpa

Im Jahr 1848 beantragte Leopold Zunz an der Berliner Universität einen Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Literatur, was von der Berliner Philosophischen Fakultät abschlägig beschieden wurde. Auch die Errichtung eines Lehrstuhls für rabbinische Literatur an der Berliner Universität wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass dies kein Gegenstand der Universität, »am wenigsten einer philosophischen Fakultät [sei], welche die freie Wissenschaft vertrete«.

Demgegenüber wurde die seit 1870 von dem Leipziger protestantischen Alttestamentler und Gründer des »Evangelisch-Lutherischen Centralvereins für Mission unter Israel«, Franz Delitzsch, geforderte christliche Professur für jüdische Geschichte und Literatur an einer deutschen Universität nur deshalb nicht eingerichtet, weil sich keine passenden Bewerber fanden, sodass Delitzsch 1880 ein Institutum Judaicum in Leipzig gründete, das er bis zu seinem Tod 1890 leiten sollte.

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gründeten sich an verschiedenen Universitäten eine Reihe verschiedener Instituta Judaica (Berlin, Leipzig, Greifswald), an denen zu missionarischen Zwecken jüdische Geschichte und Literatur erforscht und gelehrt werden sollte. Von jüdischer Seite aus kam es vor allem durch Abraham Berliner zu einer massiven Kritik dieser »Pflegestätten der Mission«, die allerdings ungehört verhallte.

Paternalismus Mehr noch: Lange bevor 1966 der erste Lehrstuhl für Judaistik an der Freien Universität Berlin eingerichtet wurde, hatten sich bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit an deutschen Universitäten unter unterschiedlichen Bezeichnungen verschiedene Instituta Judaica gegründet (Münster 1948, Göttingen 1950, Tübingen 1957). Nun standen diese zwar weniger unter einem expliziten Missions- als vielmehr unter einem Wiedergutmachungsanspruch; dies ändert aber nichts an der Verhinderung konfessionsunabhängiger Erforschung jüdischer Religion, Literatur, Kultur und Geschichte durch die Evangelischen Theologien an deutschen Universitäten und an einer fast paternalistischen Beschäftigung mit dem Judentum.

Fast zynisch erscheint vor diesem Hintergrund die noch heute auf der Website des Münsteraner Institutum Judaicum Delitzschianum befindliche Formulierung, dass die »vom Nationalsozialismus zerstörte Wissenschaft des Judentums ... hier in der Form wieder auf[lebte], dass im Dialog mit jüdischen Partnern historisch-kritisch gearbeitet wurde und wird«.

Erst recht befremdlich mutet es an, dass die Universität Tübingen derzeit und zum wiederholten Mal eine W3-Professur für Religionswissenschaft mit einem Schwerpunkt Judaistik ausschreibt, die an der Evangelisch-Theologischen Fakultät angesiedelt sein soll und für die, wie die Stellenausschreibung gleich hinzufügt, eine »Konfessionsbindung« zu berücksichtigen sei. Damit ist nicht notwendig die evangelische Konfession für die Bewerber vorgeschrieben; es geht aber doch um die Mitsprache des Oberkirchenrates bei der Stellenbesetzung.

berlin Schauplatz- und Vorzeichenwechsel: An der Humboldt-Universität Berlin wird derzeit darüber nachgedacht, wie »die islamische, die katholische und die jüdische Theologie so in die Universität und/ oder Theologische Fakultät eingebunden werden könnten, dass eine Kooperation in Forschung und Lehre möglich wird« (FAZ vom 11. Februar 2017). So mancher träumt hier sogar schon von einer »Fakultät der Theologien« (ZEIT vom 2. März 2017).

Aus jüdischer Sicht befremdet hier vor allem die Tatsache, dass sich bei der ganzen Debatte niemand daran zu stören scheint, dass in den öffentlichen Diskursen derzeit eine »akademische Verkirchlichung« der muslimischen und jüdischen akademischen Ausbildung gefordert wird und letztlich wiederum eine Kommission der evangelisch-theologischen Fakultät darüber befinden soll, in welcher Form die jüdische und muslimische Gemeinschaft befugt, befähigt oder berechtigt ist, an einer deutschen Universität jüdische oder muslimische Theologie zu etablieren.

Allen Beteiligten dürfte wohl auch klar sein, dass diese Pläne die Frage aufwerfen, wer dann entscheiden soll, in wie viele Teilfächer und Professuren sich die jüdische oder muslimische Theologie unterteilen darf. Immerhin umfasst die Evangelische Fakultät sechs Teilfächer mit je zwei Professuren. Vor allem aus diesem Grund hat wohl auch die Präsidentin der Humboldt-Universität jede weitere Spekulation fürs Erste zurückgewiesen.

forschung Die Entkoppelung philologisch-historisch-kultur- oder religionswissenschaftlicher Forschung von der Frage nach der Herkunft, dem Geschlecht oder der Konfession ihrer forschenden Subjekte ist eine der Errungenschaften der freien und ausschließlich der wissenschaftlichen Qualität verpflichteten Forschung an Deutschlands Universitäten, und sie gilt seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts endlich auch für die Judaistik beziehungsweise die Jüdischen Studien an deutschen Universitäten.

Die deutsche Judaistik ist von hervorragenden Männern und Frauen, jüdischen wie nichtjüdischen, aufgebaut worden, und alle künftigen Professuren für dieses Fach sollten daher auch an der Philosophischen Fakultät oder an einer eigenen Jüdischen, respektive Islamischen Theologischen Fakultät, aber keinesfalls konfessionsgebunden an einer christlichen Theologischen Fakultät angesiedelt sein. Es wäre ein ehrlicher Zug der Evangelischen Kirche, wenn sie 500 Jahre nach Martin Luther auch die Tübinger Stelle der Philosophischen Fakultät zur Verfügung stellte, damit auch Juden sich hier an der Ausbildung von Judaisten beteiligen können.

Auf der anderen Seite sollte es selbstverständlich sein, dass auch die jüdische Gemeinschaft in Deutschland analog zu ihren christlichen und muslimischen Schwestern eine jüdisch-theologische Fakultät unabhängig von den christlichen Theologien gründen können darf, wenn sie dies denn wollte. Dazu braucht es aber eine Universitätsleitung im Gespräch mit den entsprechenden Religionsvertretern, nicht aber eine kirchlich-theologische Kommission.

In Potsdam hat man zumindest einen Versuch in diese Richtung unternommen und das Fach Jüdische Theologie im Rahmen der Philosophischen Fakultät etabliert. Wo aber ein offenes und sachbezogenes Gespräch über das Verhältnis von Theologien untereinander und deren Standort in der Wissenschaftslandschaft bis heute nicht in Gang gekommen ist, weil die etablierten Theologien vor allem an Bestandssicherung interessiert sind, bleibt die Potsdamer Konstruktion leider eine Insellösung, die darin auch nicht unbedingt als Vorbild für eine zeitgemäße Neuordnung der universitären Theologien dienen kann.

Heidelberg
Angesichts der jetzt hoffentlich verstärkt zu führenden Debatten, ob denn eine Hegemonie der Evangelischen Theologie gleich welchen Vorzeichens über die Jüdischen Studien/Jüdische Theologie im Lutherjahr 2017 noch zeitgemäß ist, kann die jüdische Gemeinschaft in Deutschland immerhin stolz auf ihre Hochschule in Heidelberg verweisen. An ihr werden seit 1979 die Wissenschaft des Judentums und die jüdischen Literaturen wissenschaftlich und philologisch fundiert als Kultur-, Geschichts- und Religionswissenschaft von der Antike bis zur Gegenwart gelehrt.

Die Lehrstühle unterliegen keiner konfessionellen Bindung, aber Juden sind natürlich auch nicht von Forschung und Lehre ausgeschlossen. Die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg wurde und wird allerdings dort zum Nukleus einer akademischen und nicht einzelnen jüdischen Strömungen verpflichteten jüdischen Theologie, wo Juden und Jüdinnen, Lehrende und Lernende sich mit ihrer eigenen religiösen Tradition kritisch auseinandersetzen, um Deutungskompetenz und -hoheit über die eigene religiöse Tradition (zurück) zu gewinnen und gleichzeitig diesen theologischen Diskurs auch in die allgemeine Gesellschaft zurückzuspiegeln.

So konnte an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg erstmals die Hebräische Bibel und ihre Auslegungsgeschichte außerhalb der universitären Theologie gelehrt werden, etwas, das Abraham Berliner, Abraham Geiger, David Hoffmann und viele andere Mitstreiter der Wissenschaft des Judentums nicht mehr erleben durften. Der nie hinterfragten christlich geprägten Sicht der Bibel in ihrer Bedeutung für die moderne Gesellschaft wurde endlich die jüdische auf Augenhöhe an die Seite gestellt.

Es wird Zeit, dass Juden das Erbe der Wissenschaft des Judentums auch in dieser Hinsicht antreten können.

Hanna Liss lehrt seit 2003 Bibel und Jüdische Bibelauslegung an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, Johannes Heil ist Rektor der Hochschule.

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