»Vor der Morgenröte«

Acht Jahre Einsamkeit

Der Bürgermeister ist untröstlich. Solch hohen Besuch hat seine Gemeinde inmitten der Zuckerrohrplantagen in der brasilianischen Provinz Bahia noch nie empfangen. Und jetzt kommt dieser Stefan Zweig doch tatsächlich eine Stunde früher als angekündigt. Die Krawatte ist noch nicht gebunden, die Musikkapelle rauscht gerade erst auf einem Lastwagen heran, und ein Großteil der Gäste ist längst noch nicht eingetroffen. Doch Zweig (Josef Hader) und seine Frau Lotte (Aenne Schwarz) nehmen die Verzweiflung der Gastgeber gelassen und amüsiert zur Kenntnis.

Nach der Begrüßungsrede kündigt der Bürgermeister eine besondere Überraschung für den weltbekannten Exilschriftsteller aus Österreich an: Die Kapelle spielt den Donauwalzer, und zwar derartig schräg und schief, dass sich die Gäste das Lachen verkneifen müssen. Aber dann bleibt die Kamera auf Zweigs Gesicht – und was sich in diesem Gesicht während der mehrminütigen Darbietung ereignet, wie die Belustigung darin langsam verebbt und tiefer Rührung und Verzweiflung Platz macht, das ist ein eigenes, genau beobachtetes und gespieltes Drama.

Szenen wie diese, die sich die Zeit nehmen, in die Tiefe zu gehen, sind die große Stärke von Maria Schraders zweiter, fulminanter Regiearbeit Vor der Morgenröte, die Stefan Zweigs Jahre im Exil beleuchtet. Anders etwa als Thomas Mann, der mit seinem »Wo ich bin, ist Deutschland« in der Emigration mit großer Souveränität auftrat, war Zweig als Jude den widersprüchlichen Kräften des Exils und dem Gefühl des Verfolgtwerdens schutzlos ausgesetzt.

Utopie Schon 1934 erkannte Zweig die Zeichen der Zeit, meldete einen zweiten Wohnsitz in London an und flüchtete 1937 nach England. Es folgte eine Reise in die USA, aber in der New Yorker Exilgemeinde sah Zweig für sich keine Perspektive und ließ sich schließlich zunächst in Rio de Janeiro und später Petrópolis nieder. Brasilien empfing den Schriftsteller mit offenen Armen; Zweig sah in der multiethnischen Landeskultur ein Teil jener völkerverständigenden Utopie verwirklicht, von der seine Heimat Europa mit kriegerischer Gewalt auf brutalste Weise abrückte.

Doch das – idealisierte – Paradies vor Augen und das Grauen des Krieges und der Judenverfolgung im Kopf, wurde der überzeugte Pazifist Zweig, der sich am 23. Februar mit seiner zweiten Frau Lotte das Leben nahm, in der Sicherheit des Exils zu einem Verlorenen.

Maria Schrader sucht und findet die Nähe zu dem politisch vereinsamten Autor nicht im staubigen Biopic-Format. Vielmehr unternimmt sie anhand von sechs Momentaufnahmen – angelehnt an Zweigs Miniaturen – biografische Erkundungen, die sich in ihrer auf den unmittelbaren Moment konzentrierten Auflösung vollkommen gegenwärtig anfühlen. Wenn Zweig etwa im September 1936 den PEN-Schriftstellerkongress in Buenos Aires besucht, dann ist das kein steifes Statisten-Event. Kopfüber stürzt sich die Kamera von Wolfgang Thaler ins Getümmel – und sofort wird man als Zuschauer in die Atemlosigkeit katapultiert, mit der hier politische Diskussionen über den bevorstehenden Krieg in Europa und die Verurteilung des Nazi-Regimes in Deutschland geführt wurden.

Der Autor Emil Ludwig (Charlie Hübner) liest in dieser Szene eine Liste der in die Emigration getriebenen Schriftsteller vor, auf der fast alle Namen stehen, die in der deutschsprachigen Literatur Rang und Namen haben. Als Zweigs Name fällt, erhebt sich das Publikum und applaudiert ihm. Nicht aus Rührung, sondern aus einem Gefühl der Peinlichkeit heraus hält sich Zweig die Hände vors Gesicht. Denn die großen Gesten der Solidarität aus der Sicherheit des Exils heraus haben für ihn keine Gültigkeit, genauso, wie er sich im Gespräch mit Journalisten weigert, sein geliebtes Deutschland aus der Ferne pauschal zu verurteilen.

Dass diese vielschichtige Sichtweise, ganz ohne manipulative Parteinahme, in dem Film einen Platz erhält – auch das ist eine Stärke von Schraders Film, die ihrem Publikum Gedankenräume eröffnen will und selbst jenen Mut zur Differenzierung beweist, den Stefan Zweig als Autor und Intellektueller auch in der polarisierten Situation des Weltkriegs eingefordert hat.

Exil
Vor der Morgenröte stellt so eine ungeheure persönliche wie intellektuelle Vertrautheit zu dem Schriftsteller her, der neben Thomas Mann als wichtigster deutschsprachiger Autor seiner Zeit galt. Nur wenige Jahre vor seinem Tod im brasilianischen Exil schrieb er mit dem biografisch orientierten Roman Die Welt von Gestern über das alte, zerfallende Europa und dem Bestseller Die Schachnovelle Werke von nachhaltiger literaturgeschichtlicher Wirkung.

Dabei bestand sein wichtigstes kreatives Kapital stets in seinem großen Empathievermögen, das ihm in den Mühlen der gewalttätigen Weltgeschichte des 20.Jahrhunderts vielleicht selbst zum Verhängnis wurde. Passend dazu stehen auch in Schraders Film neben Sequenzen, die die großen politischen Debatten um den Niedergang Europas skizzieren, immer wieder auch Szenen intimer Zärtlichkeit, die die Verlorenheit des Menschen Stefan Zweig im Exil ganz ohne Rührstückhaftigkeit demonstrieren.

Als Zweig in seinem Rückzugsort Petrópolis den ebenfalls dorthin emigrierten Berliner Zeitungsverleger Ernst Feder (Matthias Brandt) trifft, stehen sie in dessen bescheidenem Haus auf dem Balkon. Vor ihnen eröffnet sich ein Urwaldparadies, und während Zweig dem Neuankömmling die Vorzüge der neuen Heimat schmackhaft zu machen versucht, spiegelt sich gerade in diesen Bemühungen die Verzweiflung der beiden Heimatlosen.

Auch in dieser Situation erweisen sich Schrader und ihr fabelhafter Hauptdarsteller Josef Hader, den man bisher vor allem von seiner komödiantischen Seite kannte, als Meister diskreter Vielschichtigkeit. Gerade im deutschen Kino, das seine monokausalen Anliegen meistens bis in die letzte Reihe durchdekliniert, ist eine solche Regie und Besetzung ein selten anzutreffendes Glück.

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