Jubiläum

70 Jahre, 60 Bücher

Pionierin des Jugendbuchs: Mirjam Pressler Foto: imago

Jubiläum

70 Jahre, 60 Bücher

Autorin, Anne-Frank-Editorin, Übersetzerin: Mirjam Pressler hat Geburtstag

von Katrin Diehl  14.06.2010 17:13 Uhr

Ihre frühen Bücher bewegten. Sie ließen Kinderherzen höherschlagen. Nicht, weil da ein Held denkbar knapp das Happy End und damit die verletzliche Kinderseele rettete, sondern weil man Menschen, Kinder, Gleichaltrige vorgeführt bekam, die sich am Rande, im Dunkeln, zwischen Gewalt und Armut bewegten, sich von Problem zu Problem hangelten und man das aufregende Gefühl bekam: Das gibt es echt, mitten im reichen Deutschland, in meiner Straße, in meiner Klasse. Wow. Der Blick war geschärft, erweitert, ein Bewusstsein geschaffen, das nur klugen Eltern recht sein konnte. Was will man mehr? Höchstens, dass die Verlassenen, Armen, der Gewalt ausgesetzten Kinder selbst diese Bücher in die Hand bekommen, sie lesen und spüren, dass jemand sie wichtig nimmt und versteht. Ein Traum, an dem sich Lehrer, Sozialarbeiter und andere Menschen abrackern. Mirjam Pressler hat den Weg gewiesen mit ihren gegen den Strich gebürsteten Kinder- und Jugendbüchern. Andere Autoren sind ihrem Beispiel gefolgt

unterschicht Am 18. Juni wird Pressler, die Kinder- und Jugendbuchautorin, Übersetzerin und nimmermüde Leserin 70 Jahre alt. Sie hat über 60 Bücher geschrieben, die Liste der Übersetzungen aus dem Hebräischen, Niederländischen, Flämischen, Englischen, Afrikaans ist endlos, beachtlich die der erhaltenen Auszeichnungen, zuletzt der Internationale Buchpreis Corine 2009. Dabei hat sie den Weg zur Literatur erst vergleichsweise spät eingeschlagen, mit 40 Jahren. Nach dem Studium von Kunst und Sprachen in Frankfurt am Main und München wollte Mirjam Pressler zunächst den Sozialismus ausprobieren und ging nach Israel in einen Kibbuz. Sie kehrte zurück nach Deutschland, heiratete, bekam drei Töchter, ließ sich scheiden und begann, weil das Geld knapp wurde, nach der Büroarbeit nachts zu schreiben. Mit ihrem Erstlingswerk Bitterschokolade holte sie sich auf Anhieb 1980 den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis. Es geht darin um ein Mädchen, das Probleme in Form von Schokolade in sich hineinstopft. Das Wort »Bulimie« kannte damals noch kaum einer.

Ihre nächsten Bücher schreibt Mirjam Pressler, mal mehr, mal weniger, an ihrer Kindheit entlang, auch wenn sie diese, wie sie sagt, nicht so genau kennt und eigentlich auch nicht gerne über sie redet. Mirjam Pressler kam 1940 in Darmstadt als uneheliches Kind auf die Welt, wuchs bei alten Pflegeeltern und im Kinderheim auf und weiß, was mit »sozialer Unterschicht« gemeint ist. Kinder ganz unten interessieren Mirjam Pressler. Sie gibt ihnen in Büchern eine Stimme, bis es Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre zu einer Zäsur kommt. Pressler nimmt sich die kritische Ausgabe von Anne Franks Tagebuch vor und übersetzt sie vom Niederländischen ins Deutsche. 1991 erscheint ihre erweiterte Neufassung des Tagebuchs, die die inhaltlich deutlich entschärfte frühere Ausgabe plötzlich sehr alt aussehen lässt. Was man für Kinder und Jugendliche schreibt, ist immer der Gefahr ausgesetzt, nicht an die nächste Generation weitergereicht und daher vergessen zu werden. Mit der kritischen Ausgabe von Anne Franks Tagebuch und dessen Entstaubung hat sich Mirjam Pressler einen Namen außerhalb ihrer Sparte gemacht.

Dachboden Mirjam Presslers Verhältnis zum Judentum lässt sich sehr schwer fassen. Vielleicht würde man ihre Zustimmung bekommen, würde man sie als eine Jüdin ohne Wurzeln bezeichnen. Mal findet sie sich, mal sucht sie sich als Jüdin. Religiös ist sie kein bisschen. Vom Judentum als Thematik für ihre Bücher kommt sie jedenfalls weniger denn je los. Pressler nimmt Klassiker (Shylocks Tochter, Golem, stiller Bruder, Nathan und seine Kinder) und macht sie für Jugendliche lesbar auch ohne Lehrergequatsche, lässt jüdische Verfolgungsgeschichte lebendig und individuell werden (Mojsche und Rejsele, Die Zeit der schlafenden Hunde, Malka Mai). Und immer wieder kreuzt Anne Frank ihren Weg. In der Schweiz fanden sich auf dem Dachboden eines Cousins Briefe, Dokumente, Fotos der Familie Frank, die über Generationen zurückreichen. Wer wäre fähiger gewesen, daraus ein Buch zu machen, als Mirjam Pressler?

Vor Jahren hatte Abraham Teuter vom Alibaba Verlag, den es nun auch schon ein paar Jahre leider nicht mehr gibt, sie dazu überredet, aus dem Hebräischen zu übersetzen, weil es da so viel Gutes gäbe. Und plötzlich konnte man hierzulande Kinder- und Jugendbücher aus Israel lesen, ins Deutsche gebracht von Mirjam Pressler, die nicht nur Gefallen an ihrer neuen Tätigkeit fand, sondern dadurch mehr und mehr von der Wichtigkeit überzeugt war, fremdsprachige Literatur zugänglich zu machen. Also übersetzte sie auch Aharon Appelfeld, Uri Orlev, Amos Oz. Was hätte man ohne Mirjam Pressler eigentlich zu lesen? Wir danken und gratulieren.

Dortmund

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