USA

Zwölf Familien, eine Synagoge

Alle zwei Wochen kommt der Rabbiner aus Atlanta für den Schabbatgottesdienst nach Rome, einer Kleinstadt im Nordwesten des Bundesstaates Georgia. Dann wird das Ehrenamt für die Pellers, die Brants, die Levys und andere Mitglieder der jüdischen Gemeinde Rodeph Sholom – Verfechter des Friedens – zum Vollzeitjob.

»Wir machen alles – die Alarmanlage aus- und wieder einschalten, Türen aufschließen, den Raum für den Gottesdienst herrichten, aufräumen, putzen, Müll wegbringen, Snack und Scheck für den Rabbi vorbereiten«, sagt Jeffrey Peller, seit 40 Jahren Mitglied der traditionsreichen Gemeinde, die aus zwölf Familien aus Rome und Umgebung besteht.

Was Peller, ein Rheumatologe im Ruhestand, über seinen Einsatz – und den Einsatz seiner Familie und Freunde – in der Synagoge von Rome sagt, ist typisch für das jüdische Leben in Kleinstädten und auf dem Land in den Vereinigten Staaten. Doch es ist die Lebenswelt der Städte, die das Bild des amerikanischen Judentums prägt – das Leben in Metropolen wie New York, Heimat der größten jüdischen Gemeinde in den USA und außerhalb Israels, in Los Angeles, Miami oder Atlanta.

Etwa 80 bis 85 Prozent der amerikanischen Juden leben in den urbanen Zentren, sagt Matthew Boxer, Professor für jüdische Studien an der Brandeis University bei Boston. Die meisten der gut 3140 Counties, der US-Verwaltungsbezirke, befinden sich in ländlichen Regionen und haben weniger als 100 jüdische Bewohner.

Etwa 80 bis 85 Prozent der amerikanischen Juden leben in den urbanen Zentren

Die Gründe sind vor allem ökonomische, sagt Boxer: »Juden gehören zu den Bevölkerungsgruppen mit einem hohen akademischen Ausbildungsgrad. Und die guten Jobs sind meist in den Städten.«
Dennoch: In kleinen Gemeinden aufzuwachsen oder zu leben, forme die jüdische Identität auf eine ganz besondere Weise. »Jüdisches Leben auf dem Land und in der Kleinstadt ist ein Kontaktsport, kein Zuschauersport«, sagt Boxer.

In den urbanen Synagogen mit 1000 oder 2000 Mitgliedern mache es keinen Unterschied, ob ein Einzelner sich engagiere oder nicht. Dort bereiten Angestellte und Dienstleister die Schabbatgottesdienste, die Hohen Feiertage oder die Barmizwa-Feiern vor. »Aber hier auf dem Land kannst du nicht einfach die jüdische Catering-Firma bestellen«, sagt Boxer. »Hier musst du selbst anpacken.« Auf dem Land oder in der Kleinstadt reiche es nicht, einfach nur jüdisch zu sein, setzt er hinzu. »Du musst Jüdisches tun.«

Jüdisches tun: Damit haben die Gemeindemitglieder von Rodeph Sholom in Rome Erfahrung. Im 19. Jahrhundert gab es in Rome, rund 100 Kilometer nordwestlich von Atlanta, intensives jüdisches Leben. 1875 erwarb die Gemeinde Land von der benachbarten Episkopalkirche und baute ihr eigenes Heim.

Auf dem Land kann man nicht einfach eine jüdische Catering-Firma bestellen.

Die 150 Jahre alte Synagoge, ein roter Backsteinbau mit weißen Säulen, liegt im Zentrum der Kleinstadt mit 38.000 Einwohnern. Die Synagoge ist umgeben von christlichen Gotteshäusern: Neben der Episkopalkirche gibt es eine katholische Kirche, eine Baptistenkirche und zwei Presbyterianer-Kirchen in unmittelbarer Nähe.

Es ist still an diesem Sonntagmorgen, als Jeffrey Peller die Tür zur Synagoge aufsperrt. Das Tageslicht, gefiltert durch die getönten Fensterscheiben, taucht den Innenraum der Synagoge, ausgestattet mit schlichten Bänken, in einen gedämpften, surrealen Gelbton. Es gibt einen Gemeinschaftsraum mit langem Holztisch und einen Innenhof.

Etwa 20 Gemeindemitglieder kommen regelmäßig zu den Gottesdiensten, an den Hohen Feiertagen manchmal auch mehr. Seit 1955 hat Rodeph Sholom keinen eigenen Rabbiner. »Wir sind klein, aber sehr aktiv«, sagt Jeffrey Brant, der 1985 mit seiner Frau Nancy nach Rome kam und als Augenarzt praktiziert. Neben den Gottesdiensten organisieren die Gemeindemitglieder Filmabende und Potluck-Partys. Es gibt eine Tora-Schule und einen Buchklub.

»Hier ist es unmöglich, in der Masse verloren zu gehen«, sagt Brant. Und wenn jemand in eine Notlage gerate – sei es Krankheit oder eine berufliche Krise –, dann werde die Gemeinde zur erweiterten Familie, setzt er hinzu. Der tief im jüdischen Leben verwurzelte Wert der Kehilla, der eng gewebten Gemeinschaft, erlebt außerhalb der Metropolen eine Renaissance.

Kehilla, die eng gewebten Gemeinschaft, erlebt außerhalb der Metropolen eine Renaissance

Doch Shelly Peller warnt davor, jüdisches Leben auf dem Land zu romantisieren. Die Physiotherapeutin, verheiratet mit Jeffrey Peller, kommt aus einer alteingesessenen jüdischen Familie in Rome. Ihr Ururgroßvater war der erste Rabbiner von Rodeph Sholom.

Sie sei in einer Welt aufgewachsen, in der die Norm christlich sei, sagt sie. Schließlich liegt Rome – auf sieben Hügeln gebaut wie sein berühmter Namensgeber – im Südstaat Georgia, und Georgia liegt im Bible Belt, im Bibelgürtel der USA. Das Bewusstsein des Andersseins, bisweilen auch der Isolation, wurde für Shelly Peller zum Leitmotiv.

Anders bei ihrem Mann. Jeffrey Peller wurde in New York City groß. Seine Familie besuchte Temple Emanu-El, eine der größten Synagogen der Welt. Alle seine Freunde seien jüdisch gewesen, sagt er. Er habe seinen ersten Weihnachtsbaum in einem Privathaus erst gesehen, als er schon im College war.

Kein Grund, jüdisches Leben auf dem Land zu romantisieren

»Ich habe dagegen als Kind mit meinen Freunden jedes Jahr Weihnachtsbäume geschmückt«, sagt Shelly Peller – nicht, weil sie christlich sein wollte, sondern weil es Spaß gemacht habe. Aber sie stand auch abseits, wenn die lokale Radiostation mit Kindern über Santa Claus sprach. »Diese Erfahrungen haben mich geprägt. Ich habe ein starkes Bewusstsein für mein Jüdischsein entwickelt«, sagt sie. »Das war nicht immer bequem.«

Jüdische Identität in Kleinstädten und auf dem Land sei »hervorstechender, aber auch elastischer« als in den Metropolen, sagt Steven Lebow, einer von zwei Gast-Rabbinern bei Rodeph Sholom. Unterschiede zwischen den verschiedenen Strömungen – orthodox, konservativ oder Reform – seien auf dem Land weniger ausgeprägt, »aus dem einfachen Grund, weil die jüdische Bevölkerung hier zu klein ist«.
So war Rodeph Sholom ursprünglich eine orthodoxe Synagoge, gehört aber heute formal dem Reformjudentum an. Zu den Mitgliedern zählen konservative und liberale Juden sowie interreligiöse Paare. »Jüdische Gemeinden auf dem Land sind so vielfältig wie Juden, wie Menschen überall«, sagt Lebow.

Anders als in Großstädten kommt hier der Antisemitismus fast ausschließlich von rechts.

Und auch vom Antisemitismus – weltweit und besonders seit dem 7. Oktober 2023 im Aufwind – bleiben kleine Gemeinden nicht verschont. Doch das Gesicht des Antisemitismus ist anders auf dem Land. Anders als in den Großstädten komme hier der Antisemitismus fast ausschließlich von rechts, sagt Forscher Boxer. Die Bevölkerung auf dem Land sei generell konservativer, und Anhänger von White-Supremacy- und Neo-Nazi-Gruppen seien in ländlichen Regionen stärker vertreten.

Zwei Muster des Antisemitismus - Bösartigkeit oder Dummheit

Boxer sieht zwei deutliche Muster des Antisemitismus außerhalb der Metropolen: In einigen Regionen nehme der Antisemitismus extreme Formen an, »und da sprechen wir nicht von Mikro-Aggression, sondern von physischer Gewalt, von Vandalismus, von Todesdrohungen«, sagt Boxer. Und dann gebe es Kleinstädte, in denen jüdische Bewohner nur wenig Antisemitismus erfahren, setzt er hinzu. »Das sind die Glücklichen.«

Die Mitglieder von Rodeph Sholom zählen sich – zumindest weitgehend – zu den Glücklichen. In den vergangenen Jahrzehnten habe es sporadische Vorfälle gegeben, sagt Jeffrey Peller: Drohbriefe gegen Rabbinatsstudenten, ein Hakenkreuz auf der Eingangstür der Synagoge, Hassbotschaften auf Flugblättern. Und dann sind da immer wieder Momente, in denen die Gemeinde mit antisemitischen Stereotypen konfrontiert wird, sei es aus Bösartigkeit oder Dummheit. Jeffrey Brant erinnert sich an einen Vorfall, als er einer Gruppe von College-Studierenden eine Führung durch die Synagoge gab. »Am Ende fragte mich eine Studentin: ›Und wo schlachten Sie die Opfertiere?‹«

Auch gehört Rome zum Wahlbezirk der ultrarechten republikanischen Kongressabgeordneten Marjorie Taylor Greene, die immer wieder mit bizarren, oft antisemitisch getränkten Verschwörungstheorien von sich reden macht. Die Mitglieder von Rodeph Sholom hätten gelernt, Politik weitgehend aus ihren Gesprächen herauszuhalten, sagt Jeffrey Peller und zuckt mit den Schultern. Er selbst tröste sich damit, dass Greene in Rome selbst keine Mehrheit bei den Wahlen bekommen habe, sagt er.

Das Bewusstsein der ständigen Bedrohung führt auch zu Veränderungen im Alltag: Bei jedem Gottesdienst, bei jeder Veranstaltung patrouilliert ein Polizist um die Synagoge. Eine Alarmanlage mit Videokameras überwacht die Eingänge, den Parkplatz, den Innenhof.

Es bleibt eine Distanz

Die Juden in Rome versteckten sich nicht, sagt Rabbi Lebow. »Aber sie bewegen sich weitgehend unterhalb des Radars.« Es gibt wenig Öffentlichkeitsarbeit, nicht einmal zum 150. Geburtstag der Synagoge.
Nach dem antisemitischen Attentat auf die Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh 2018, bei dem elf Menschen ums Leben kamen, veranstaltete Rodeph Sholom einen Gedenkgottesdienst, der offen für alle war. Die Synagoge quoll über, und die Veranstaltung wurde auf Leinwänden nach draußen und in die benachbarte Episkopalkirche übertragen.
Jeffrey Peller und seine Freunde sind dankbar für die Solidarität und das Interesse ihrer nichtjüdischen Nachbarn. Aber es bleibt eine Distanz, und die ist gewollt.

»Für mich ist die Synagoge ein sicherer Ort«, sagt Peller. »Der einzig sichere Ort. Ein Ort, an dem ich umgeben von anderen Juden bin. An dem ich bei mir selbst sein kann, auch wenn wir verschiedene Lebenswege und Meinungen haben. Ein Ort nur für uns.«

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