Balkan

Zwischen Belgrad und Podgorica

»Es gibt viele Möglichkeiten, jüdisch zu sein, Religion ist nur eine«: Jelena Djurovic (42) Foto: Nils Bröer

Balkan

Zwischen Belgrad und Podgorica

In Serbien kämpft Jelena Djurovic für Menschenrechte und gegen Geschichtsvergessenheit

von Krsto Lazarević  20.06.2016 18:41 Uhr

Als Jelena Djurovic elf Jahre alt war, stand bei ihr in der Schule Die Brücke über die Drina des jugoslawischen Autors Ivo Andric auf dem Lehrplan. Eine Hauptheldin in dem Buch ist an die Person Lotika Zellermeier angelehnt, Djurovics Urgroßtante. Als sie das von ihrer Mutter erfuhr, wurde Jelena Djurovic bewusst, dass sie Jüdin ist.

31 Jahre später sitzt die Menschenrechtsaktivistin, Radiojournalistin und Vizevorsitzende der jüdischen Gemeinde Montenegros in einem Café im Belgrader Stadtteil Dorcol. Hier war einst das Zentrum der jüdischen Gemeinde. Davon zeugt bis heute der Straßenname Jevreska.

Seit ihrer Kindheit lebt Djurovic in Dorcol. Sie passt gut in das hippe Viertel; sie lacht viel und gern, wird aber sofort ernst, wenn ihr ein Thema sehr am Herzen liegt. Djurovic gehört zu den Menschen, die die Zukunft des Landes im Westen sehen, Kriegsverbrechen aufarbeiten wollen und sich für die Rechte von Schwulen und Lesben einsetzen. Von der Gegenseite – denjenigen, die Wladimir Putin anhimmeln, Liberalismus und Minderheitenrechte für dekadente westliche Propaganda halten – erntet sie dafür viel Hass.

Auf ihre jüdischen Wurzeln ist Djurovic stolz. Wenn der Davidstern an ihrer Kette unter die Bluse rutscht, holt sie ihn schnell wieder hervor.

Kindheit Sie versucht zu erklären, warum das Jüdischsein in ihrer Kindheit zunächst keine Rolle gespielt hat: »Meine Großmutter musste vieles durchmachen, damit sie und die Familie am Leben bleiben.« Ein Teil der Familie wurde im Konzentrationslager Dachau ermordet. Ein Großonkel kam 1941 bei den »Säuberungen« in Belgrad ums Leben.

»Meine Großmutter hatte gefälschte Geburtsurkunden, auf denen stand, dass sie serbisch-orthodox ist. Ihre Eltern wiederum konnten keine gefälschten Dokumente bekommen und mussten sich in einen Dorf im Keller verstecken.«

Jelena Djurovics Großmutter hatte ihr ganzes weiteres Leben lang Angst, dass die Nazis eines Tages zurückkommen würden. Manchmal stand sie in der Nacht auf, weil sie von den Fußtritten der Soldaten träumte. Deswegen bestand sie auch lange Zeit darauf, dass ihre Enkelin nichts von ihren jüdischen Wurzeln erfahren sollte. »Sie drohte, das Haus zu verlassen, wenn mir jemand erzählen würde, dass ich Jüdin bin.«

Am Anfang konnte Jelena Djurovic, wie sie sagt, »mit all diesem Jüdischen« nicht viel anfangen. Doch dann begann sie, sich für jüdische Geschichte zu interessieren. »Es gibt viele Möglichkeiten, jüdisch zu sein, Religion ist nur eine«, sagt sie. »Natürlich weiß ich viel übers Judentum, aber für mich ist es vor allem etwas Kulturelles und Politisches statt etwas Religiöses. Jeder muss selbst entscheiden, wie er jüdisch sein will.«

Einsatz Heute kämpft Jelena Djurovic gegen die Vereinnahmung ihrer Vorfahrin Lotika Zellermeier durch den nationalistischen Regisseur Emir Kusturica, der sein Unternehmen vor einigen Jahren nach ihr benannt hat. Oft hört sie, dass Kusturica doch großartige Filme gemacht hat. Darauf entgegnet sie: »Sein Werk interessiert mich nicht. Auch Leni Riefenstahl hat gute Filme gemacht – na und? Politisch sind diese Menschen unmöglich. Ich kann mir doch nicht die Filme anschauen und dann ausblenden, dass diese Leute mit Hitler oder Slobodan Milosevic verkehrt haben.«

Mit Sorge betrachtet Djurovic, wie man in Serbien mit der Vergangenheit umgeht: Seit einiger Zeit läuft ein Gerichtsverfahren über die Rehabilitierung von Milan Nedic, dem Nazikollaborateur und Ministerpräsidenten des serbischen Marionettenstaates. Außerdem wurde in Belgrad 1996 damit begonnen, Straßennamen zu ändern und die Namen von Partisanen und Antifaschisten aus dem Stadtbild zu entfernen. Darüber hinaus wurde der Antisemit Nikolaj Velimirovic 2003 von der serbisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen, und vor einem Jahr rehabilitierte man den Tschetnik-Führer Dragoljub Mihailovic.

Djurovic ist sehr beunruhigt über diese Entwicklung: »Das alles war der Auftakt. Wenn sie Milan Nedic rehabilitieren, dann setzt das dem Ganzen die Krone auf. Hier in Dorcol haben Nedics Leute die Juden geholt und ins KZ Sajmište gebracht.« Im August 1942 galt Serbien dem SS-Gruppenführer schließlich als das einzige Land, in dem die »Judenfrage« endgültig gelöst sei.

Jugoslawien Das Jüdischsein in ihrer Kindheit und Jugend in Titos Jugoslawien beschreibt Djurovic als angenehm. Antisemitismus habe sie nie gespürt. »Das Problem war allerdings, dass wir keine diplomatischen Beziehungen zu Israel hatten. Doch das war kein Antisemitismus, sondern eine politische Entscheidung.«

Vor einigen Jahren, Djurovic lebte damals in London, erhielt sie einen Anruf von einem Herrn Alfandari aus Montenegro. Er wolle eine jüdische Gemeinde gründen, sagte er zu ihr. Zu diesem Zeitpunkt gab es dort kein sichtbares jüdisches Leben. Alfandari war über ihre familiäre Verbindung zu Lotika Zellermeier auf Djurovic aufmerksam geworden. »Heute ist er der Vorsitzende, und ich bin die Vizevorsitzende der jüdischen Gemeinde, die inzwischen seit mehr als vier Jahren besteht«, sagt Djurovic.

In Montenegro gibt es rund 500 Juden. Die meisten leben in der Hauptstadt Podgorica, wo Djurovic seit einiger Zeit einen zweiten Wohnsitz hat. »Wir sind nur eine sehr kleine Gemeinde«, sagt sie. Doch jedes Jahr kämen rund 3000 jüdische Touristen nach Montenegro. »Und weil es keine israelische Botschaft im Land gibt, rufen die Menschen zuerst bei uns an, wenn sie Probleme haben. Wir sind dann für sie da.«

Demnächst soll in Podgorica eine Synagoge entstehen. Direkt daneben will die Gemeinde ein jüdisches Kulturzentrum und ein koscheres Restaurant errichten. Dafür werden Spenden gesammelt. Manchmal wird Djurovic gefragt, warum dies denn für eine so kleine Gemeinde notwendig sei. Dann sagt sie ganz klar: »Dieses Projekt ist wichtig als gesellschaftlicher Klebstoff für die Juden in Montenegro. Wer weiß, vielleicht kommen ja, wenn alles fertiggestellt ist, noch ein paar mehr dazu.«

Großbritannien

Frauen haben Besseres verdient

Die Journalistin Marina Gerner beklagt in ihrem Buch fehlende Innovationen im Bereich Frauengesundheit – und eckt nicht nur mit dem Titel an

von Amie Liebowitz  28.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  28.11.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 28.11.2025 Aktualisiert

Niederlande

Demonstranten stören Vorlesung in Gedenken an Nazi-Gegner

An der Universität Leiden erzwangen antiisraelische Studenten die Verlegung einer Gedächtnisvorlesung zum Andenken an einen Professor, der während der Nazi-Zeit gegen die Judenverfolgung protestiert hatte

von Michael Thaidigsmann  28.11.2025

Großbritannien

Verdächtiger nach Anschlag auf Synagoge in Manchester festgenommen

Der Angriff auf die Synagoge am Vorabend des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur sorgte international für Bestürzung. Jetzt wurde ein weiterer Tatverdächtiger festgenommen

von Burkhard Jürgens  27.11.2025

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

Interview

»Meinungsvielfalt gilt es auszuhalten« 

Am 8. Dezember wählt die Gemeindeversammlung der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich ein neues Präsidium. Ein Gespräch mit den Kandidaten über Herausforderungen an die Gemeinde, Grabenkämpfe und Visionen

von Nicole Dreyfus  27.11.2025

Schweiz

Antisemitismus auch in der queeren Szene benennen

Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich teils unsicher, wenn in der queeren Szene über Israel gesprochen wird. Der Verein Keschet will das ändern

von Nicole Dreyfus  27.11.2025

Das Ausmalbuch "From the river to the sea" in einer Buchhandlung in Zürich.

Meinung

Mit Kufiya und Waffen

Ein Kinderbuch mit Folgen

von Zsolt Balkanyi-Guery  27.11.2025

USA

Personifizierter Hass

Menschen wie Nick Fuentes waren lange ein Nischenphänomen. Nun drängen sie in den Mainstream - und sind gefährlicher denn je

von Sophie Albers Ben Chamo  26.11.2025