Dunkel gekleidete orthodoxe Juden mit schwarzen Hüten und langen Pejes so weit das Auge reicht. Man wähnt sich in Brooklyn oder Antwerpen, doch der Schein trügt. Es ist Bodrogkeresztúr, auf Jiddisch Kerestir, ein Dorf am Rande der Tokajer Weinregion im Nordosten Ungarns. Aus aller Welt sind Männer, aber auch einige Frauen, angereist, um zur Jahrzeit, dem Todestag, des Wunderrabbis Reb Shayele dort zu beten, wo er gewirkt hat. Einige bleiben nur wenige Stunden, andere gleich mehrere Tage.
Reb Shayele wurde 1851 als Yeshaya Steiner in Zborov, einem Ort im Nordosten der heutigen Slowakei, geboren. Auch sein Vater war Rabbiner, er starb früh. Im Alter von zwölf Jahren wurde Yeshaya von seiner Mutter zum Zaddik Tzvi Hirsch, einem als besonders weise geltenden Rabbiner, geschickt, um bei ihm Tora zu lernen. Der Junge erwies sich als talentiert und stieg schon bald zum Gabbai, dem Assistenten seines Lehrmeisters, auf. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Speisen an die vielen Menschen zu verteilen, die zum Rebben pilgerten, um dessen Rat und Hilfe zu erbitten. Nach dem Tod von Tzvi Hirsch zog Steiner nach Kerestir und wurde gleichfalls ein chassidischer Rebbe.
In der kommunistischen Ära verfiel das Haus des Rebben
Es kursieren zahlreiche Geschichten von seiner übernatürlichen Fähigkeit, Kranke zu heilen, Ereignisse vorherzusagen oder spirituelle Ratschläge zu erteilen. Sogar Christen wandten sich an ihn. Vor allem wurde Reb Shayele aber für seine unermessliche Gastfreundschaft geehrt. So wollten viele von ihm nichts anderes als eine warme Mahlzeit – oftmals die erste seit Wochen.
Der Legende nach nahm er auf dem Sterbebett seinen Kindern das Versprechen ab, dass allen, die in sein Haus kommen, geholfen wird wie zu seinen Lebzeiten. Das war vor 100 Jahren, weshalb sein diesjähriger Todestag besonders viele Menschen anzog.
Shayeles Kinder folgten dem letzten Wunsch ihres Vaters und führten den Brauch fort, weshalb sich Kerestir bald zu einem bedeutenden Wallfahrtsort entwickelte. Vor allem zur Jahrzeit des Rebben reisten viele Chassidim an sein Grab. Doch der Zweite Weltkrieg setzte dieser Tradition ein Ende. Im Mai 1944 zwangen die Gendarmen des Dorfes die rund 450 jüdischen Bewohner zur Übersiedlung in ein nahe gelegenes Ghetto, von wo aus sie nach Auschwitz deportiert wurden. Die wenigen Überlebenden emigrierten später nach Amerika. Dort gründeten sie die Gemeinde von Kerestir neu.
Während der kommunistischen Ära verfielen das Haus des Rebben und die Synagoge des Ortes. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begannen Reb Shayeles Nachfahren, wieder nach Kerestir zu reisen. Anfangs sei nur die Verwandtschaft gekommen, 50 bis 100 Personen, berichtet Benjamin Goldmann. Er ist seit vielen Jahren für den reibungslosen Ablauf der Pilgerfahrten zuständig.
Dann kauften die Kerestirer Chassidim das alte Haus der Familie sowie die Synagoge zurück, begannen mit der Renovierung. Anschließend wurde das Ohel, der Grabraum über Reb Shayeles letzter Ruhestätte, auf dem jüdischen Friedhof herausgeputzt. Nun steht sogar der Bau einer neuen Synagoge an. »Seitdem wir vor acht Jahren eine koschere Großküche eingerichtet haben, steigt die Zahl der Besucher«, so Goldmann weiter.
»Bis zu diesem Zeitpunkt war die Versorgung problematisch, weil das Essen von weit her gebracht werden musste.« Nun kommen das ganze Jahr über Chassiden aus aller Welt nach Kerestir, die meisten aber zur Jahrzeit des Wunderrebben. In der Presse ist mitunter von 50.000 und mehr die Rede, was jedoch übertrieben sei. »Es sind eher so um die 15.000«, erklärt der Manager. Dieses Jahr aber waren es deutlich mehr, wahrscheinlich über 20.000, denn es war die 100. Jahrzeit des Rebben.
Shuttles fahren die Pilger im Fünfminutentakt zum Friedhof
In den vergangenen Jahren hat die eigens für die Pilgerfahrten gegründete Stiftung der Urenkel eine hervorragend organisierte jüdische Infrastruktur aufgebaut. Reiseveranstalter bieten Flüge von New York nach Budapest an, von dort bringen Busse die Gäste in das rund drei Stunden entfernt gelegene Kerestir. Shuttles fahren die Pilger im Fünfminutentakt von den Parkplätzen zum Friedhof und zum ehemaligen Wohnhaus des Wunderrebben.
Der Legende nach nahm er auf dem Sterbebett seinen Kindern das Versprechen ab, dass allen, die in sein Haus kommen, geholfen wird wie zu seinen Lebzeiten.
An den Ständen der Reisebüros können sowohl Rückreisen als auch Stadtbesichtigungen in Budapest gebucht werden. Küche und Bäckerei sorgen für Essen, alles wird in riesigen Zelten verteilt. Unentgeltlich – ganz im Sinne von Reb Shayele. Und sollte jemandem plötzlich unwohl werden, parken in einer Nebenstraße Rettungswagen von United Hatzalah, einem jüdischen Rettungsdienst mit Sitz in Israel.
Nicht jeder freut sich über die vielen Pilger
Nicht jeder freut sich über die vielen Besucher. »Der riesige Andrang ist sehr belastend«, sagt István Rozgonyi, Bürgermeister der 900-Seelen-Gemeinde. »Zum Glück sind unsere Einwohner tolerant und haben sich gut an die Menschenmassen gewöhnt«, fügt er sofort hinzu. Gelegentlich komme es zu kleinen Reibereien, aber diese blieben im Rahmen.
Ein Problem sei allerdings, dass fast die Hälfte aller Immobilien in Kerestir mittlerweile von Israelis und Amerikanern aufgekauft worden sei. Das treibe die Preise in die Höhe, die mittlerweile fast schon das Niveau von 1A-Lagen in der Hauptstadt erreicht hätten. Die alten Besitzer zögen weg, die Bevölkerung schrumpfe allmählich. Da die neuen Besitzer nur einige Tage im Jahr vor Ort seien, sehen die meisten Gebäude und Gärten mittlerweile vernachlässigt aus.
Die andere Sorge sei, dass einige ein illegales Hotelgewerbe betreiben würden. Da sich die Besitzer fast immer im Ausland aufhalten, hat die Gemeinde keine Handhabe, die fälligen Steuern einzutreiben oder eine ordentliche Instandhaltung einzufordern. Zudem profitiere man kaum vom Besucherstrom. »Im Dorfladen kaufen sie höchstens Zigaretten und Cola«, klagt der Bürgermeister. »Die meisten Pilger kommen von außerhalb.« Trotzdem werde alles getan, damit sich die Gäste wohlfühlen. »Wir haben sogar zugestimmt, einen Eruv, einen Schabbatzaun, rund um das Ortszentrum zu ziehen.«
Die meisten Juden fühlen sich in Ungarn sicher. Auch in Kerestir ist es nach Auskunft der Organisatoren noch nie zu antisemitischen Vorfällen gekommen. Trotzdem sei man vorsichtig. Die Bereitschaftspolizei kontrolliert die Zufahrtswege, Kameras und sogar Drohnen überwachen die Straßen. Die Volontäre von Shmira Public Safety, einem amerikanisch-jüdischen Sicherheitsdienst, sind überall präsent.
Denn auch die rechtsradikale Presse hat Kerestir entdeckt und verbreitet antisemitische Gerüchte über die Pilger. So behauptete das Online-Magazin »Kuruc.info«, in der chassidischen Bewegung würden »lautes Feiern und Alkoholkonsum eine Form des Dankes an Gott« ausdrücken. »Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn ein Dorf mit etwa 1000 Einwohnern von 70.000 Pilgern überfallen wird, die anscheinend nichts über die örtlichen Bräuche wissen, die einheimischen Frauen belästigen, die Verkehrsregeln missachten und ihre Autos im Graben stehen lassen, wenn sie in einen hineinrutschen«, heißt es dort.
»Unsinn!«, lautet dazu die Reaktion von István Rozgonyi empört. Der Bürgermeister erzählt, dass er immer wieder aufgefordert werde, von negativen Erfahrungen zu berichten. Solche habe er aber nicht. »Ein Interview gebe ich euch gern, allerdings nur unter der Bedingung, dass ihr im Vorfeld einen Artikel publiziert, in dem ihr von eurer ständigen Relativierung des Holocaust Abstand nehmt«, zitiert er seine Antwort auf solche Anfragen.
Es heißt, der Geist des Wunderrabbis trete an seinem Todestag in Erscheinung
Sowohl am Friedhof als auch im Rabbinerhaus kann es trotz der besten Organisation mitunter richtig eng werden. Die Chassidim rezitieren Gebete und notieren ihre Anliegen auf kleinen Zetteln, sogenannten Kwitels, die sie anschließend aufs Grab des Wunderrebben legen. Davon gibt es schnell Hunderte, wenn nicht gar Tausende. Es heißt, der Geist des Wunderrabbis trete an seinem Todestag in Erscheinung und erfülle die Wünsche derer, die seiner gedenken.
Manche wünschen sich Glück in der Ehe, andere Heilung von einem Gebrechen oder bitten um Rat in Streitfällen. Zwei Wochen später werden die Zettel in einer religiösen Zeremonie verbrannt und ihre Asche auf dem Friedhof begraben. Die Hoffnung, dass die Wünsche in Erfüllung gehen, basiert auf genau diesem Brauch.
Ein junger Mann aus den USA namens Shmuel bestätigt die Wirkung: Es sei Anzeige wegen Betrugs erstattet worden gegen einen Unternehmer, der zugleich sein Freund war. Vor der Anhörung am New Yorker Gerichtshof sei er nach Kerestir gereist und habe dort gebetet, dass er glimpflich davonkommen möge. Und siehe da: Am Verhandlungstag ließ sich der Kläger nicht vor Gericht blicken, und der Richter wies die Beschwerde ab – dem Wunderrabbi sei Dank.