Erinnerung

Wie eine Amerikanerin die Lebenswege Görlitzer Juden erforscht

Lauren Leiderman bei der Zoom-Buchbesprechung »Das Poesiealbum von Eva Goldberg« Foto: Mattias Wehnert

Es ist jetzt fünf Jahre her, dass die Amerikanerin Lauren Leiderman mit ihrem israelischen Mann nach Görlitz in Sachsen zog. Weil die 34-Jährige ihren beiden Kindern das Judentum vermitteln möchte, begann sie auch die jüdische Geschichte ihrer neuen Heimat zu erforschen. Dabei hat sie nicht nur eine Spur zu Anne Frank gefunden, sondern die Lebensgeschichten vieler jüdischer Görlitzer recherchiert, Erinnerung und Gedenken angestoßen - und rund 120 Nachfahren zusammengebracht.

Leiderman, die aus einer christlichen Familie im Süden der USA stammt, kennt die Geschichte der Stadt Görlitz mittlerweile so gut wie so manch Görlitzer nicht. Wenn sie Touristen auf den Spuren jüdischen Lebens durch die Stadt führt, verläuft ihr Weg immer wieder auch über die Neiße ins benachbarte heutige polnische Zgorzelec.

In einem Mietshaus in der heutigen Kociuszki-Straße lebte vor dem Zweiten Weltkrieg die jüdische Familie Goldberg. Drei Stolpersteine zieren den Eingangsbereich. Vater Max Goldberg arbeitete als Lieferant für das jüdische Kaufhaus Totschek. Seine Frau Helene war Schneiderin. Tochter Eva kam 1929 zur Welt. Im Januar 1939 verließ die Familie Görlitz, floh nach Amsterdam und von dort über England in die USA. Eva Goldberg hat die Reise in ihrem Poesiealbum dokumentiert.

Poesiealbum bei Recherchen im Archiv des Holocaust Memorial Museum in Washington entdeckt

Dieses Poesiealbum entdeckte Leiderman eines Tages bei Recherchen im Archiv des Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Darin ist auch ein Eintrag zu lesen, den die 1945 in Bergen-Belsen ermordete Anne Frank Eva ins Album schrieb: »Mit Vielen teile Deine Freuden, Mit Allen Munterkeit und Scherz. Mit Wenigen nur Deine Leiden, Mit Auserwählten nur Dein Herz. In Erinnerung an Deine Freundin Anne Frank.« Die Familien Frank und Goldberg waren befreundet, auf der Flucht trafen sie sich in Amsterdam.

»Mit diesen Recherchen hat ein Abenteuer begonnen«, erzählt die ehemalige Opernsängerin Leiderman. Sie schreibt ein Buch über Eva Goldberg (Das Tagebuch der Eva Goldberg, 2021), das auch auf Englisch und Polnisch erschien. Im Zuge ihrer Recherchen entdeckt sie viele weitere Namen ehemaliger Görlitzer Juden.

Sie beginnt einen Blog zu schreiben, gründet eine Facebook-Gruppe und bringt so Nachkommen jüdischer Görlitzer in aller Welt zusammen, insgesamt mehr als 120 Menschen. Alle zwei Wochen verabreden sie sich zu einem Zoom-Call. Eines Tages kam die Idee zu einem Treffen in Görlitz auf. Daraus entstand die Jüdische Gedenkwoche im November 2021, die Leiderman organisierte. Die von ihr recherchierten Schicksale dokumentiert sie auf einem »Stolpersteine-Guide« im Internet in Zusammenarbeit mit dem Kulturbüro Görlitz.

»Leiderman ist es gelungen, zu vermitteln, dass Geschichte nicht nur was Vergangenes ist, sondern mit heute lebenden Menschen zu tun hat«, sagt Frank Seidel, Leiter des Kulturforums Görlitzer Synagoge.

Aus einem Treffen in Görlitz entstand die Jüdische Gedenkwoche im November 2021

Besonders in Erinnerung geblieben seien ihm die zahlreichen Begegnungen zwischen den Nachfahren ehemaliger Görlitzer Juden und der Bevölkerung. Im Juni 2023 kommt es zu einem weiteren Treffen. Dieses Mal sind Nachfahren der Familie Feldmann dabei. Deren Tochter Eva floh 1938 ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina, heiratete einen jüdischen Flüchtling aus Breslau namens Hirschfeld. Zusammen bekamen sie fünf Kinder. Die Familie zog an die heutige Grenze zum Gazastreifen. Die Eltern Feldmann und Sohn Kurt entkamen nach Südamerika. Beim Treffen in Görlitz kamen Nachfahren aus Südamerika, Großbritannien und Israel zusammen. Zusammen verlegten sie vier Stolpersteine in Erinnerung an die Görlitzer Groß- und Urgroßeltern.

Als am 7. Oktober die Terrororganisation Hamas israelische Ortschaften rund um den Gazastreifen angriff, seien auch die Nachfahren der Görlitzer Familie bedroht worden, berichtet Leiderman: Acht Erwachsene und neun Kinder hätten das Massaker überlebt, verborgen in Schutzräumen und Verstecken. Außer ihrem Leben und den Kleidern am Leib hätten sie fast alles verloren.

Zusammen mit anderen Nachfahren startete Leiderman eine Kampagne, um diesen Teil der Familie Hirschfeld und auch andere vom Massaker betroffene Nachfahren Görlitzer Juden mit dem Nötigsten zu versorgen.

Inzwischen wurden in Görlitz und Zgorzelec mehr als 80 Stolpersteine verlegt

»Die Hirschfelds waren Flüchtlinge aus Deutschland. Und jetzt passiert es wieder«, sagt die Forscherin. Aber dieses Mal in Israel. »Die Hälfte der Familie lebt nun wieder als Flüchtlinge.« Durch ihr Engagement habe Leiderman auch ein anderes Bewusstsein für den Konflikt geschaffen, findet Frank Seibel: »Was da passiert ist, ist nicht irgendwo im Nahen Osten passiert, sondern hat was mit uns zu tun.«

Inzwischen hat Leiderman dazu beigetragen, dass in Görlitz und im angrenzenden polnischen Zgorzelec mehr als 80 Stolpersteine verlegt wurden und die Nachfahren aus aller Welt sich regelmäßig treffen. Es sei wie eine große Familie, sagt Leiderman, »ihre Görlitz-Familie«.

Shlomo Graber anlässlich eines Vortrags in einer Schule in Rosenheim im Jahr 2017.

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