USA

Weltenerklärer

Hat seine Theorie der Staatskunst aus der Erfahrung seiner Flucht vor der Schoa entwickelt: Henry Kissinger, 1923 in Fürth geboren Foto: imago images/Eventpress

Der Klub der Staatsmänner, die mit fast 100 Jahren noch relevant und gefragt sind, ist klein. Genau genommen, gehört ihm nur eine einzige Person an: Henry Kissinger. Doch das hält den Mann, der für einen außergewöhnlich großen Teil des 20. Jahrhunderts die Weltpolitik mitgeprägt hat, nicht davon ab, sich einzumischen.

Erst im vergangenen März ließ sich Kissinger zum World Economic Forum in Davos zuschalten, um den Anführern der freien Welt seine Meinung zur Ukraine-Krise zu übermitteln und sie mit der ganzen Autorität seines langen diplomatischen Lebens ins Grübeln zu bringen. Es müsse dringend Verhandlungen mit Putin geben, ließ er wissen, der harte Konfrontationskurs des Westens könne schwerwiegende Folgen haben.
Aus den Äußerungen sprach jener politische Pragmatismus, den Kissingers Außenpolitik und jene der USA in den 70er- und 80er-Jahren stets gekennzeichnet hatte.

»Der pragmatische Zugang unterscheidet Staatsmänner von Propheten.«

Henry Kissinger

Jener pragmatische Zugang ist es, wie Kissinger in seinem neuen Buch Staatskunst schreibt, der Staatsmänner von Propheten unterscheidet. Darüber, welcher der beiden Gruppen seine Sympathie gilt, lässt Kissinger keinen Zweifel. »Staatsmänner analysieren die Realitäten einer existierenden Situation und versuchen, das maximal Mögliche innerhalb dieser Grenzen zu erreichen«, schreibt Kissinger. »Der prophetische Blick ist von großer Leidenschaft geprägt, er lässt jedoch das Maß an menschlichem Leid außer Acht, das die Anpassung an große politische Transformationen erfordert.«

Holocaust Damit ist auch schon die politische Philosophie Kissingers umrissen. Sie ist zweifellos nicht zuletzt aus der Erfahrung der Flucht vor dem Holocaust geboren, die den 1923 in Fürth geborenen und 1938 in die USA geflohenen Kissinger zutiefst geprägt hat. Aus ihr entwickelt er seine Theorie der Staatskunst, die er in seinem neuesten, rund 600 Seiten starken Werk, seinem 19., erneut darlegt.

Der Untertitel des Buches lautet Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert, und er unterstreicht den Anspruch des Buches: Kissinger will dem Leser des Jahres 2022 seine geballte weltpolitische Erfahrung zur Verfügung stellen, damit er daraus Lehren für die Zukunft ziehen kann.

Die sechs Lektionen stellen sich als politische Biografien sechs exponierter Figuren des vergangenen Jahrhunderts heraus: Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon, Anwar al-Sadat, Lee Kuan Yew und Margaret Thatcher. Kissinger präsentiert sie als Meister jener Art von Staatskunst, die er zu propagieren versucht. Alle sechs haben laut Kissinger dem Gang der Welt dadurch eine positive Wendung gegeben, dass sie weder ihre politische Vision noch die Grenzen der Machbarkeit aus den Augen verloren.

auswahl Natürlich fällt bei der Auswahl als Erstes auf, dass die fünf Staatsmänner und die eine Staatsfrau, denen Kissinger sich widmet, allesamt konservativ waren. Liegt dies daran, dass konservative Politiker eher zum Pragmatismus neigen als die ewig idealistischen Linken?

Kissinger verneint das. In einem Interview mit dem »Time Magazine« behauptete er kürzlich, die Unterscheidung zwischen rechts und links sei für ihn nicht relevant. Wichtiger sei die Unterscheidung zwischen denjenigen, die Geschichte respektieren, und jenen, welche die Geschichte ihrem Willen gemäß beugen wollen. An großen Linksliberalen, die den nötigen Pragmatismus an den Tag legen, um konkrete Ziele zu erreichen, behauptet Kissinger, sei ihm nur niemand vom Format jener sechs eingefallen, die er aus der Geschichte der vergangenen 70 Jahre hervorhebt.

An dieser Stelle möchte man Einspruch erheben. Es hat sicherlich einige linksliberale Pragmatiker gegeben, die es verdient hätten, in Kissingers Pantheon gehievt zu werden, Willy Brandt und Helmut Schmidt kommen einem in den Sinn, sicherlich auch Barack Obama oder François Mitterrand. Aber gut, Henry Kissinger ist beinahe 100 Jahre alt und besitzt einen Status, der ihm seine persönliche Präferenz gestattet.

Die Fähigkeit einstiger Staatenlenker sei heute verloren gegangen.

Spätestens die Auswahl von Richard Nixon lässt jedoch ein wenig an der akademischen Distanz des emeritierten Harvard-Politologen zweifeln. Den einzigen US-Präsidenten in der Geschichte, der während seiner Amtszeit wegen krimineller Machenschaften zurücktreten musste, zu einem der großen Staatsmänner des Jahrhunderts zu erklären, ist eine eher kuriose Entscheidung. Kissingers Funktion als Nixons Sicherheitsberater macht diese Entscheidung noch deutlich dubioser.

Kissinger lobt an Nixon den maßvollen Ausstieg aus dem Vietnamkonflikt, den viele Historiker-Kollegen als Katastrophe ansehen. Er lobt außerdem Nixons Öffnung nach China, zu der er, Kissinger, seinerzeit deutlich beigetragen hat. Die Watergate-Affäre, den größten Fall politischer Korruption in den USA vor Donald Trump, tut er derweil als Bagatelle ab: »Da hat wohl irgendwer im Raum einmal Nixon beim Wort genommen und genau das getan, was er so dahingesagt hat.«

Das klingt eher schwach, und man fragt sich, was das 21. Jahrhundert denn tatsächlich von einem Staatenlenker wie Nixon lernen kann. Kissingers Antwort darauf, dass Nixon von intimer Kenntnis weltpolitischer Zusammenhänge und einer Vision des Kräftegleichgewichts geleitet wurde, klingt wiederum nicht sonderlich überzeugend, wenn man Nixon erlebt hat. Man gewinnt durchaus den Eindruck, als wolle Nixon hier vor allem seine Hinterlassenschaft als Staatsmann retten.

»Deep LITERACY« Laut Kissinger verbindet Nixon mit den anderen im Buch behandelten Staatenlenkern die Tatsache, dass er sich, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, eine umfassende humanistische Bildung angeeignet hat. Diese Art der »deep literacy«, wie Nixon sie nennt, sei die Grundvoraussetzung für eine weitsichtige, kluge Art, Staaten zu lenken und Diplomatie zu betreiben.

So habe Konrad Adenauer mit seiner Vision von Europa und der Integration Deutschlands in das westliche Bündnissystem den Weg für das moderne Europa geebnet. Maggie Thatcher habe mit ihrer Entschlossenheit und ihrem diplomatischen Geschick zur Deeskalation des Kalten Krieges sowie des Nordirland-Konflikts beigetragen. Und de Gaulle, den Kissinger am meisten zu bewundern scheint, habe durch seine Chuzpe sowie seine Vision gemeinsam mit Adenauer das moderne Europa geformt.

Die Fähigkeit dieser Staatenlenker, bei allem Pragmatismus die Übersicht über langfristige historische Prozesse zu behalten, so Kissinger, gehe nun im Zeitalter der neuen Technologien nicht nur verloren, sondern werde nicht mehr geschätzt. An die Stelle von moralisch handelnden Dienern des Gemeinwohls seien Karrieristen und Technokraten getreten.

So entlässt Kissinger den Leser mit einer eher pessimistischen Sicht auf die Zukunft. Eine einzige Hoffnung hegt er jedoch: dass die Irrungen unserer Zeit und der Aufstieg von Figuren wie Trump und Putin den humanistisch motivierten, moralisch handelnden Staatenlenker mit Vision wieder in Mode kommen lassen.

Henry Kissinger: »Staatskunst: Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert«.
C. Bertelsmann, München 2022, 608 S., 38 €

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