Großbritannien

Wählt nicht unseren Chef!

»Premierminister Corbyn? Er würde dem jüdischen Leben Schaden zufügen«, warnte kürzlich ein Rabbiner auf der Titelseite des »Jewish Telegraph«. Foto: imago images/ZUMA Press

Es war im beginnenden Wahlkampf für die meisten nur eine Randnotiz, doch eine mit großem Symbolgehalt: Der Verband Jewish Labour Movement (JLM) erklärt offiziell, dass er den Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn im Wahlkampf nicht unterstützen wird. »Seit der Wahl von Jeremy Corbyn zum Labour-Anführer 2015 wurde zugelassen, dass sich eine Kultur des Antisemitismus in der Partei auf allen Ebenen ausbreitet und festsetzt«, klagt die Organisation, die nach eigenen Angaben gut 2000 Mitglieder hat.

Es gebe einfach zu viele Vorfälle und Skandale – »von den Wandgemälden bis zu den Kränzen«, wie das Jewish Labour Movement andeutungsweise schreibt. Corbyn verteidigte vergangenes Jahr ein Londoner Wandbild mit hakennasigen Bankiers, unter deren Monopoly-Tisch sich Hungernde krümmten. Und vor fünf Jahren legte er in Tunis einen Blumenkranz für »palästinensische Märtyrer« nieder, die sich als Schwarzer-September-Terroristen herausstellten, die 1972 bei den Olympischen Spielen in München elf jüdische Sportler ermordet hatten.

streit Dieses Jahr dann tobte der Streit um den Abgeordneten Chris Williamson, einen Corbyn-Anhänger, der Maßnahmen gegen antisemitische Umtriebe als »Hexenjagd« bezeichnete. Nun wurde Williamson verboten, wieder für Labour zu kandidieren. Viel zu spät, findet Fiona Sharp, Sprecherin von Labour Against Antisemitism.

Der Jewish-Labour-Bewegung reicht es. Ihre Ehrenpräsidentin, die langjährige Abgeordnete Louise Ellman, wie auch die Parlamentarierin Luciana Berger »wurden aus der Labour-Partei herausgejagt«, schreibt der Verband. »Die letzten vier Jahre waren katastrophal für Juden in der Labour-Partei«, klagt die Organisa­tion, die als »Poale Zion« (Die Arbeiter von Zion) gegründet wurde und seit 99 Jahren mit Labour verbunden ist.

Die Verbindung hat jetzt tiefe Risse bekommen. Corbyn wollen sie auf keinen Fall helfen, Premierminister zu werden. Allerdings werden die JLM-Aktivisten einzelne Labour-Politiker bei der Neuwahl am 12. Dezember unterstützen, etwa die jüdischen Abgeordneten Ruth Smeeth im Wahlkreis Stoke-on-Trent North und Margaret Hodge in Barking im Londoner Osten.

Bis in die 80er-Jahre war Labour für sehr viele politische Heimat.

Zwar zeigen Umfragen einen klaren Vorsprung der Tories vor Corbyns Labour-Partei, doch ist das Rennen offen. Allein die Möglichkeit, dass der 70-jährige Altlinke, der in so viele Antisemitismus-Affären verwickelt war, in die Downing Street Nr. 10 einziehen könnte, beunruhigt viele Juden.

»Premierminister Corbyn? Er würde dem jüdischen Leben Schaden zufügen«, zitierte der »Jewish Telegraph« in fetten Buchstaben auf der Titelseite die Warnung eines Rabbiners.

Der »Jewish Chronicle« forderte per Schlagzeile: »Wählt, um Corbyn zu stoppen«. Und die Zeitung »Jewish News« titelte: »Ein Albtraum kurz vor Chanukka?« Der »Chronicle« appellierte diese Woche auf der Titelseite an alle Bürger, insbesondere die Nichtjuden, Corbyn eine Absage zu erteilen.

umfrage Eine neue Umfrage zeigt, wie massiv sich die Juden von der Labour-Partei entfremdet haben, die bis in die 80er-Jahre für die große Mehrzahl politische Heimat war. Nur noch sechs Prozent wollen diesmal für Corbyns Partei stimmen. Dagegen gibt es eine hohe Zustimmung von 64 Prozent zu den Konservativen und Premierminister Boris Johnson, ergab die Umfrage im Auftrag der »Jewish News«.

Auffällig ist der starke Zuwachs für die Liberaldemokraten, die sich bei den jüdischen Wählern auf 24 Prozent verbessern können, plus 19 Punkte gegenüber 2017. Die LibDems haben sich klar als Pro-EU-Partei positioniert.

Für fast ein Drittel der jüdischen Wähler ist der Brexit die wichtigste Frage bei dieser Wahl. Für 19 Prozent ist es das Thema Antisemitismus, das eben viele mit Labour-Chef Corbyn und seinen verbissen anti-israelischen Ansichten verbinden. Fast jeder zweite jüdische Wähler gab in der Umfrage an, er denke »ernsthaft« daran, auszuwandern, falls Corbyn Premier werden sollte.

Corbyn hat zwar erklärt, er stehe gegen Antisemitismus, doch viele nehmen ihm das nicht ab. Auch seine Aussage, höchstens 0,1 Prozent der Labour-Mitglieder seien antisemitisch, stößt auf Unglauben.

Auf die Seite der britischen Juden hat sich immer wieder Tom Watson gestellt, doch trat er vergangene Woche als Labour-Vize zurück. Schattenschatzkanzler John McDonnell, eine der mächtigsten Figuren der Partei, zeigte sich in der BBC »so traurig«, als man ihm die Titelbilder der drei jüdischen Zeitungen vorlegte. Er versicherte, dass Labour »alles tun wird, was wir können«, um gegen Antisemitismus vorzugehen.

linksruck Der Historiker Dave Rich, Autor des Buches The Left›s Jewish Problem, sieht die Wurzel der Probleme in dem scharfen Linksruck von Labour unter Corbyn. »Das ist nicht mehr die alte, sozialdemokratische Labour-Partei.« Die radikale Linke habe aus mehreren Gründen antisemitische Züge: einmal wegen ihrer obsessiven Zionismus- und Israelkritik, außerdem aus einem alten Antikapitalismus, der sich gegen »jüdische Finanziers« richte. Corbyn ist ein leidenschaftlicher Unterstützer der Sache der Palästinenser. Aufsehen erregte er, als er Hamas und Hisbollah als »Freunde« bezeichnete.

Was könnte nun die Abwendung jüdischer Wähler für die Labour-Partei bedeuten? Gut 250.000 Juden leben im Königreich, das sind nur etwa 0,4 Prozent der Bevölkerung. Aber in einigen Wahlkreisen könnten ihre Stimmen den Ausschlag geben, etwa im Londoner Norden in den Wahlkreisen Finchley und Golders Green, Hendon und Chipping Barnet. Dort leben relativ viele Juden, in Finchley soll jeder fünfte Wähler jüdisch sein.

Fast jeder zweite jüdische Wähler will auswandern, wenn Corbyn Premier wird.

Die Gegend wird scherzhaft »Bagel Belt« genannt. Noch hält ein Tory-Abgeordneter den Wahlkreis Finchley und Golders Green. Nun tritt die 38-jährige Ex-Labour-Abgeordnete Luciana Berger für die LibDems an und hat keine schlechten Chancen.

Jahrelang litt sie unter antisemitischen Beleidigungen und Drohungen, mal von Linken, mal von Rechten, mal von radikalen Muslimen. Nach Kritik an der Parteiführung gab es zwei Abwahlanträge in ihrem lokalen Labour-Verband. Schließlich trat sie aus. Der Verband Jewish Labour Movement beklagt, die Parteiführung habe von den Schikanen gewusst, aber die Sorgen nicht ernst genommen.

Während Corbyn unter linken Aktivisten glühende Anhänger hat, ist er in der weiteren Bevölkerung unbeliebt. Laut einer aktuellen Ipsos-Mori-Umfrage sehen ihn nur 15 Prozent der Wähler positiv, 75 Prozent lehnen ihn ab. So schlechte Werte hatte seit Jahrzehnten kein Oppositionsführer. Der Mehrheit der Briten erscheint er zu links und ideologisch. Der Geruch des Antisemitismus, der ihn umgibt, ist da noch das unappetitliche Sahnehäubchen.

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