Was für ein Leben! Am 24. August wird Paul Lendvai 96 Jahre alt. Der österreichische Publizist und Historiker, jahrzehntelanger Leiter des ORF-Europastudios, Korrespondent unter anderem der »Financial Times« und Kolumnist des »Standard«, ist einer der renommiertesten Osteuropa-Experten. Gleichzeitig der älteste seiner Gilde und gewiss auch der agilste. Zwar hat Lendvai seine Autobiografie Auf schwarzen Listen bereits vor 30 Jahren vorgelegt, doch ist seither weltpolitisch derart viel geschehen. Auch war er nie lediglich ein Archivar der eigenen Erinnerungen. Somit höchste Zeit für ein neues Buch, das nun unter dem Titel Wer bin ich? vorliegt.
Doch geht es in diesem präzisen Essay nicht um Selbstbespiegelung, sondern um eine übergeordnete Frage. Wie situiert sich ein 1929 in Budapest geborener säkularer Jude, der nur knapp dem Holocaust entronnen ist, 1953 von den ungarischen Stalinisten verhaftet wurde und 1957 nach Österreich fliehen konnte, in der heutigen Zeit? Mit der Erkenntnis »Die Zerbrechlichkeit der Freiheit ist die einfachste und zugleich tiefste Lehre aus meinem langen Leben, aus meinen vier Identitäten als Österreicher und Ungar, Jude und Europäer« endet Lendvais Buch. Davor erfolgt eine messerscharfe Analyse jener burschikos-gleisnerischen Gestalten von Sebastian Kurz bis Viktor Orbán, die (welch Schönheit der Sprache!) mit »frevelhaftem Übermut« den Freiheitsbegriff kapern und ins Autoritäre, Halbseidene drehen.
Der schwierige Weg vom Konflikt zum Kompromiss
Lendvais Plädoyer gilt einmal mehr dem wehrbereiten liberalen Rechtsstaat und einem argumentativen Sprechen in Zimmerlautstärke, »auf dem schwierigen Weg vom Konflikt zum Kompromiss«. Was hier angemahnt wird – Anstand, Faktentreue und dazu die Fähigkeit, diese Werte auch effizient zu verteidigen –, entspringt nicht altersmilder Allerweltsweisheit. Im Gegenteil. Lendvai lesen bedeutet, anhand der Biografie eines wachsamen Jahrhundertzeugen die Grundlagen zwischenmenschlichen und politischen Miteinanders neu wertschätzen zu lernen.
Was Schärfe nicht ausschließt. So sehr er geprägt bleibt von der positiven Erfahrung, 1957 in Österreich als Flüchtling berührend gastfreundlich aufgenommen worden zu sein, ist er präsent, wann immer es vor zerstörerischer Korruption, Verschmiertheit und autoritären Verhaltensmustern zu warnen gilt. Wobei für ihn, der im Unterschied zu vielen seiner Verwandten die Nazi-deutsche Mordmaschinerie und die bestialische Grausamkeit der ungarischen Pfeilkreuzler überlebte, ohnehin kein blindes Vertrauen möglich ist: »Die Lehre für mich und für die Juden meiner Generation war jedenfalls, dass von einem Tag auf den anderen alles versinken kann. Diese Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Obwohl seither rund 80 Jahre vergangen sind, besitze ich im Unterbewusstsein kein wirkliches Sicherheitsgefühl mehr.«
Umso ernster sollten wir nehmen, was Lendvai über den seit dem 7. Oktober 2023 weltweit explodierenden Judenhass und dessen Verharmloser schreibt – und über den Putin-nahen ungarischen Premiers Orbán, der danach trachtet, die EU von innen zu zerstören. Bei alldem aber ist dieser steinalte, doch noch immer jubeljung neugierige Zeitgenosse keineswegs ein resignierter Griesgram, sondern ein über Generationsgrenzen hinweg ungebrochen vitaler Ermutiger, Freiheit zu verteidigen. Wer das immense Glück hat, Paul Lendvai auch persönlich zu begegnen, wird seinen Charme und seine feine, humane Ironie nie vergessen. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch und Mazal Tow!
Paul Lendvai: »Wer bin ich?«. Zsolnay, Wien 2025, 130 S., 24 €