Da stand sie, klein, mit eleganten Haaren, in einem schlichten Outfit. Ihre Schritte waren langsam, aber sie lief sicher den langen Flur in unserer Redaktion entlang. 2003 war das. Ruth Weiss war mit dem Manuskript zu ihrem Buch Der Judenweg zur »Jüdischen Allgemeinen« nach Berlin gekommen. Ein Buch, das die Geschichte von Daniel Löw erzählt, einem mittel- und rechtlosen Juden in Weissʼ einstiger Heimat Franken, der nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert eine Bande gründet und gesellschaftlich aufsteigt.
Ruth Weiss war bei ihrem Besuch 79 Jahre alt und wirkte in ihrem Erzählen, in ihrer Körpersprache unglaublich entschlossen. Sie war eine Frau, die – so schien es – über jede Zeit etwas erzählen konnte, die ein profundes Wissen hatte und mit weicher und leiser Stimme Zusammenhänge erklären und Aktuelles einordnen konnte. Wenn Ruth Weiss sprach, in ihrem Deutsch, durch das sich etwas Englisch und das fränkische »R« zogen, hörten alle zu. Nicht wegen ihrer Autorität, sondern aus dem Staunen über ihre umfänglichen Kenntnisse von Politik, Menschen, dem Leben im Allgemeinen.
Ihr Leben war früh von Ausgrenzung und Flucht geprägt
Das Leben, auf das die Journalistin und Buchautorin zurückblickte, war kein leichtes. Es war schon sehr früh von Ausgrenzung und Flucht geprägt. Weiss wurde 1924 in Fürth geboren. Ihre Großeltern hatten eine Buchbinderei in der fränkischen Stadt, ihr Vater machte eine Ausbildung im Spielwaren-Handel. Bis ihre Eltern beruflich vorübergehend nach Hamburg gingen, wohnte die ganze Familie – Großeltern, Eltern, deren Geschwister und Kinder – zusammen. Sie waren fromm, wie Ruth Weiss einmal erzählte. Die Feiertage, die Schabbatabende, das Zusammensein, es war für Weiss das, was ihr Geborgenheit und Stärke gab. Nach der Rückkehr aus Hamburg gingen sie in die Fürther Klaus-Synagoge, worauf die kleine Ruth damals außerordentlich stolz war, denn die Klaus-Synagoge galt als sehr religiös. Auf ihre Kindheit, auf den Teil, der unbeschwert war, blickte sie auch im hohen Alter immer mit viel Wärme zurück.
Doch außerhalb wurde das Leben zunehmend schwerer und verletzender. Schülerinnen wollten nicht mehr neben ihr sitzen, sie wurde im Unterricht nicht mehr aufgerufen. Zuerst verstand Ruth nicht, was der Grund dafür war. Die Feindseligkeiten, Übergriffe, Angriffe nahmen zu: Ihre Schwester wurde mit Dreck beworfen, ihr Onkel zusammengeschlagen. Ihr Vater verlor seine Arbeit in einer –nun »arischen« – Spielzeugfirma. Der Beschluss, dass der Vater nach Südafrika geht und die Familie folgt, war für Ruth eine Zäsur in ihrem Leben. Später sollte sie über die Auswanderung sagen, dass sie zwar die Städte Johannesburg und Kapstadt vom Namen her kannte, aber sonst nichts wusste. Nichts über den Kontinent Afrika, erst recht nichts über Südafrika. Ein Plüschtier, eine Puppe, ein Spielzeug, dem das Kind seine Gedanken, seine Ängste hätte zuflüstern können, durfte es nicht mitnehmen. Dafür war kein Platz auf dem Frachtschiff in der dritten Klasse.
Nach Wochen der Passage kamen Ruth, ihre Schwester Margot und ihre Mutter im neuen Leben an. Ein Moment, den Ruth Weiss kurz vor ihrem 100. Geburtstag einmal so beschrieb: »Als wir in Johannesburg ankamen, hat mein Vater eine junge Frau angestellt, die uns im Haus half, weil meine Mutter im Geschäft gebraucht wurde. Meine Mutter, die damals vielleicht gerade einmal zwei Worte Englisch konnte, unterhielt sich irgendwie mit dieser jungen Frau. Diese hatte ein Baby auf dem Rücken, setzte es ab, und wir Kinder spielten mit ihm. Innerhalb weniger Stunden hatten wir Besuch von den Nachbarn, die uns zu verstehen gaben: Man spielt nicht mit einem schwarzen Kind.« Für Ruth Weiss war das eine erschütternde Aussage. »In Deutschland durften die deutschen Kinder nicht mit mir spielen. Jetzt durfte ich nicht mit schwarzen Kindern spielen. Es hörte nicht auf. Es gab keine Pause.«
Intensive Arbeit und genaue Recherche
Das Südafrika, in dem die Familie Weiss wieder zusammenfand, war von der Apartheid geprägt, und auch von Antisemitismus. Doch dort konnte Ruth Weiss anfangen, sich zu wehren: mit Gedanken, mit Worten und im Austausch mit anderen. Ihr Wunsch, Journalistin zu werden, erfüllte sich – durch intensive Arbeit, durch genaue Recherche. Sie arbeitete unter anderem für die britische Zeitung »The Guardian«.
Ihr offenes journalistisches Eintreten gegen Rassismus und Diskriminierung führte dazu, dass sie in den 60er-Jahren während eines Auslandsaufenthalts ein Einreiseverbot nach Südafrika erhielt. Erst nach 1992 kehrte sie zurück in das Land, in das sie als Kind gekommen war. Nun entdeckte sie seine Schönheit, die Natur, die Kultur, Dinge, wofür ihr nach der Ankunft Jahrzehnte zuvor keine Zeit geblieben war, die keinen Sinn ergaben. Denn, so erinnert sie sich, »der Rassismus überlagerte vieles. Es gab Dienstboten in dem Vorort unserer Stadt, die von den Weißen behandelt wurden wie der letzte Dreck. Wenn man das jeden Tag erlebt, wenn man – wie ich – eine Freundin hat, mit der niemand anderes spielte, weil sie angeblich eine ›Farbige‹ war, und ich nicht wusste, warum. Wenn man also diese Apartheid miterlebt, dann kommt der Blick für das Schöne erst später«.
Ruth Weiss fing an, sich zu wehren: mit Worten, mit Gedanken und im Austausch mit anderen.
Ruth Weiss war eine engagierte Feministin und auch mit fast 100 Jahren tagesaktuell informiert. Sie sah die sogenannten propalästinensischen Proteste mit Entsetzen und appellierte an die jungen Menschen: »Sie können protestieren, das ist auch wichtig. Wir haben ja die Freiheit, das zu tun, also zu sagen, was wir denken. Aber es muss fundiert sein. Das fehlt wirklich ganz oft. Auch an Universitäten, und es ist teilweise so erschreckend, was Studentinnen und Studenten von sich geben. Man darf nicht wegschauen – vor allem nicht als junger Mensch, sondern man muss handeln.«
Das alles sagte sie in ihrer warmen, mit der Zeit vielleicht etwas brüchiger gewordenen Stimme zum Ende eines Zoom-Gesprächs. Sie lag im Bett, die Haare immer noch elegant, richtete geduldig die Kamera aus und sprach dann über die Welt, über ihre Kindheit, über ihre Heimat Fürth und Aschaffenburg, in der mittlerweile eine Schule nach ihr benannt wurde. Frau Weiss, das war ihr jetzt viel zu weit weg. »Ich bin Ruth«, sagte sie.
»Solange ich noch schreiben und sprechen kann, mache ich das gern«, sagte sie über ihre Begegnungen mit Schülerinnen und Schülern, zu denen sie immer wieder eingeladen wurde. Ihre Stimme mag jetzt verstummt sein, aber wer Ruth Weiss einmal begegnet ist, der wird sie niemals vergessen.