USA

Tora und Jesus

Im Betraum der Gemeinde Beth Hallel im nördlichen Atlanta ist kaum ein Platz zu finden. Etwa 150 Menschen, die Männer mit Kippa und Tallit, haben sich zum morgendlichen Schabbatgottesdienst versammelt und füllen den Raum mit leidenschaftlichem Singen und Beten. Für die meisten Synagogen nicht gerade ein alltäglicher Anblick, doch Beth Hallel ist keine gewöhnliche Gemeinde.

Sie ist eine von etwa neun messianisch-jüdischen Gemeinden in Atlanta und Umgebung und, laut Joel Chernoff, dem Geschäftsführer der Messianic Jewish Alliance of America (MJAA), eine von etwa 1.000 messianisch-jüdischen Gemeinden weltweit.

Million »Das messianische Judentum ist die am schnellsten wachsende jüdische Bewegung seit 1967 – es ist ein Wunder«, sagt Chernoff. Er zitiert eine nationale Bevölkerungsstudie des Council of Jewish Federations von 1990 für seine Überzeugung, dass es heute mehr als eine Million messianischer Juden in den USA gibt. Man mag dies bezweifeln und, mangels verbindlicher Zahlen, vorsichtigeren Schätzungen den Vorzug geben. Doch lässt sich nicht leugnen, dass sich messianisch-jüdische Gemeinden in den USA großer Beliebtheit erfreuen.

Die Organisation MJAA existiert seit 1915, bis 1975 hieß sie Hebrew Christian Alliance of America. Wie viele Gemeinden ihr angeschlossen sind, kann Chernoff nicht sagen. MJAA ist allerdings die bedeutendste Stimme der messianisch-jüdischen Gemeinden, »vergleichbar dem Jüdischen Weltkongress«, wie Chernoff sagt.

Eine weitere Organisation, die Union of Messianic Jewish Congregations (UMJC), deren Hauptaufgabe es seit 1979 ist, religiöse Führer auszubilden, zählt 80 Mitgliedsgemeinden. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere messianisch-jüdische Gemeinden, etliche sind unabhängig. »Die größte Herausforderung ist für uns der Nachwuchs«, sagt UMJC-Direktor Russ Resnik. »Viele der älteren Gemeindeführer lernten ihr Handwerk ›on the job‹. Wir dagegen wollen eine Generation heranziehen, die mehr Wissen hat«, sagt Resnik.

bauchschmerzen Die wachsende Zahl von Anhängern der messianischen Juden bereitet den jüdischen Gemeinden Bauchschmerzen. In den Augen von Rabbinern und Gemeindevorsitzenden sind die messianischen Juden, die an Jesus als den Messias glauben, überhaupt keine Juden.

»Sie sind den jüdischen Traditionen untreu. Jesus hat darin keinen Platz«, sagt Rabbiner Joseph Prass von der Gemeinde Temple Emanu-El in Atlanta. Rabbiner Stuart Federow erklärt: »Die messianischen Juden wollen uns weismachen, dass sie gleichzeitig Juden und Christen sein können. In Wirklichkeit dienen ihnen die jüdischen Rituale und Symbole nur dazu, Juden zum Christentum zu bekehren. Dafür werden Millionen Dollar ausgegeben.« Federow begründet auf seiner Website whatjewsbelieve.org genau, warum das messianische Judentum der Bibel und dem traditionellen Judentum diametral entgegengesetzt ist.

Rabbiner Eric Yoffie, der frühere Präsident der Union of Reform Judaism, hält messianische Juden für Christen, die vorgeben, Juden zu sein. Schärfere Worte findet sein Kollege, Rabbiner Shalom Lewis, von der Atlantaer Gemeinde Etz Chaim: »Messianische Juden sind eine Beleidigung für Juden und Christen. Ihre Theologie ist unehrlich.«

Dabei geht es nicht nur darum, ob Jesus der Messias ist oder nicht. Die Rabbiner beklagen auch den »Missbrauch« von Ritualen und Symbolen wie Tallit oder Tora. Im Gottesdienst von Beth Hallel wird die Tora zwar herumgetragen, aber nicht geöffnet. Statt traditioneller Gebete werden Psalmen oder Lieder auf Englisch gesungen. Der Siddur enthält nur Fragmente von Segenssprüchen und Gebeten. Gänzlich unjüdisch sind – neben der Jesus-Verehrung – die Kollekte und der quasi-missionarische Aufruf, »jüdische Freunde mit in den Gottesdienst zu bringen«.

medien Der messianisch-jüdische Rabbiner Scott Sekulow überträgt seinen Gottesdienst über Video im Internet, um Anhänger zu gewinnen. »An den Hohen Feiertagen haben wir ein Publikum von über 2.500 Menschen«, berichtet Sekulow stolz. Seit fünf Jahren moderiert er eine wöchentliche Radiosendung, die er als Plattform zum Lehren und Diskutieren nutzt. In seiner Gemeinde Beth Adonai in Atlanta ist etwa die Hälfte der Mitglieder jüdisch, die meisten sind mit einem nichtjüdischen Partner verheiratet. Sie sehen das messianische Judentum als idealen Kompromiss, während sie sich in traditionellen jüdischen Gemeinden nicht willkommen fühlen.

»Der Erfolg der messianischen Gemeinden zeigt unsere Schwächen«, sagt Rabbi Federow. »Viele Juden wissen zu wenig über ihre eigene Religion. Das macht sie anfällig für die messianischen Lehren«, fügt er hinzu. Die messianischen Juden wiederum beklagen das ihnen entgegengebrachte Misstrauen und die Vorurteile – und zwar sowohl auf jüdischer als auch auf christlicher Seite.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich die traditionellen Rabbiner und ihre messianisch-jüdischen »Kollegen« eher aus dem Weg gehen. Ein Dialog existiert so gut wie nicht. Auch die Tatsache, dass die meisten messianischen Gemeinden Israel finanziell und mit humanitärer Hilfe unterstützen, ist für traditionelle Juden kein Grund, sich mit ihnen zu verbrüdern.

»Anders als gläubige Christen sind messianische Juden per se nicht legitim. Es kommt also nicht darauf an, ob sie für Israel sind oder nicht«, sagt Rabbi Neil Sandler von der konservativen Synagoge Ahavat Achim in Atlanta. »Ich sehe ein, dass die israelische Regierung offener sein muss«, räumt Rabbiner Fred Greene von der Atlantaer Gemeinde Beth Tikvah ein. »Aber ich selbst bin sehr vorsichtig bei der Wahl meiner Partner.«

Interview

Josef Schuster on the J7 Task Force: »We Are a Driving Force«

The President of the Central Council of Jews in Germany, on the Large Communities’ Task Force Against Antisemitism (J7), the German chairmanship and a meeting in Berlin

von Philipp Peyman Engel  05.05.2025

Interview

»Wir sind ein Impulsgeber«

Zentralratspräsident Josef Schuster über die Internationale Task Force gegen Antisemitismus J7, den deutschen Vorsitz und ein Treffen in Berlin

von Philipp Peyman Engel  05.05.2025

Ukraine

Mit Tränen in den Augen

Die Weltordnung zerfällt, doch eine sinnvolle Gestaltung des 80. Jahrestags zum Ende des Zweiten Weltkriegs ist möglich, sagt unser Autor

von Vyacheslav Likhachev  04.05.2025

Österreich

Pita und Krautrouladen

Haya Molcho hat sich im Laufe der Jahre von Wien aus ein Imperium erkocht. Ein Gespräch über Familie, Politik und Balagan in der Küche

von Nicole Dreyfus  04.05.2025

Florenz

Judenretter und Radsportheld

Als Gigant der Landstraße ging Gino Bartali in die Geschichte des Radsports ein. Was der im Jahr 2000 gestorbene Italiener abseits der Rennen leistete, nötigt mindestens ebenso viel Respekt ab

von Joachim Heinz  02.05.2025

Japan

Jüdisch in Fernost

Etwa 1500 Juden sind im Land der aufgehenden Sonne zu Hause. Koscheres Leben ist schwierig. Und sogar hier hat sich seit dem 7. Oktober 2023 einiges verändert

von Eugen El  01.05.2025

Bern

Schweizer Juden reagieren auf Verbot der Terrororganisation Hamas

Deutschland hat die Terrororganisation schon kurz nach dem Angriff vom 7. Oktober 2023 verboten. Die Schweiz zieht jetzt erst nach

 30.04.2025

Großbritannien

Nike hat es »nicht böse gemeint«

Der Sportartikel-Konzern hing zum London Marathon ein Banner auf, das aus Sicht von Kritikern die Schoa lächerlich gemacht hat. Jetzt hat sich das Unternehmen entschuldigt.

 29.04.2025

Schweiz

Junger Mann wegen geplanten Anschlags auf Synagoge Halle verhaftet

Die Anschlagspläne soll er laut Staatsanwaltschaft zwischen Juli 2024 und Februar 2025 wiederholt in einer Telegram-Chatgruppe angekündigt haben

 29.04.2025