Russland

Stalins Zion

Der Zug mit der Nummer 133 verlässt die Stadt Chabarowsk an der chinesischen Grenze am frühen Morgen Richtung Westen. Wenige Minuten später überquert er auf einer imposanten, zweigeschossigen Brücke den Amur. Die meisten Reisenden legen sich nochmals hin und ziehen sich die von der Schaffnerin verteilten Bettlaken über die Ohren. Zeit ist allemal genug: Das westliche Ende der Transsibirischen Eisenbahn liegt bei Moskau, in der Stadt Pensa, ungefähr fünf Tagesreisen entfernt von hier.

Nach zwei Stunden Fahrt erreicht der Zug einen Bahnhof mit der jiddischen Aufschrift »Birobidschan«. Kaum ein Fahrgast steigt hier aus. Doch der Ort hat, wenn nicht Welt-, so doch zumindest Sowjetgeschichte geschrieben.

»Heimstätte« Was Stalin vor knapp 80 Jahren dazu bewogen hat, Juden im Fernen Osten eine »Heimstätte« zu errichten, ist bis heute unter Historikern umstritten: Wusste der Diktator um ihre unermüdliche Schaffenskraft und schickte sie deswegen in eine der unwirtlichsten Regionen des Sowjetreiches, um Neuland zu erschließen und die Industrialisierung des Landes voranzutreiben? Oder wollte er sie einfach loswerden, sie von den Großstädten im europäischen Teil des Landes fernhalten und in den Sümpfen am Ufer des Amur ihrem Schicksal überlassen? Oder antizipierte der schlaue Herrscher bereits damals den sich Jahre später abzeichnenden Konflikt mit dem Nachbarland China und schickte daher Zehntausende Juden zur Sicherung der Grenzen mehr als 6000 Kilometer von Moskau entfernt nach Fernost? Wahrscheinlich war es eine Mischung aus allem.

Die meisten Juden, die nach Fernost aufbrachen, waren völlig unvorbereitet für ein Leben in der Landwirtschaft – zumal in einem Gebiet, das ständig überflutet und von Mückenplagen heimgesucht wurde. Dennoch folgten in den ersten Jahren nach Gründung des Autonomen Jüdischen Gebiets im Jahre 1934 bis zu 40.000 sowjetische Juden dem Aufruf des Generalissimus, das brachliegende Land zu kultivieren. Einige blieben, doch die meisten konnten sich mit dem Projekt nicht anfreunden und kehrten in den europäischen Teil der UdSSR zurück oder ließen sich in anderen größeren Städten Sibiriens nieder.

Menora Vor dem lachsfarbenen Bahnhofsgebäude steht der Pferdewagen mit Tewje, dem Milchmann. Auf der Ladefläche sitzt seine Frau Golde. So deutet man als Fremder das etwas steife Paar. Kaum einer betrachtet es, schon gar nicht der alte Mann, der, auf seinen Stock gestützt, an einer zehn Meter hohen Menora vorbeihumpelt.

Gedankenverloren blicken die beiden osteuropäischen Juden von ihrem Sockel. Als ob sie wüssten, dass hier irgendetwas nicht stimmt, auch 60 Jahre nach dem Tod des Diktators. Ihr Blick ist ebenso ausdruckslos wie jener der Kwas-Verkäuferin, die hier, immerhin mit Erfolg, auf Kundschaft wartet.

Der imposanten Skulptur haftet nichts Idyllisches und schon gar nichts Bedrohliches an. Der Untergang der Schtetl-Kultur scheint niemanden zu berühren. Weshalb auch? Europa ist weit weg. Ein überproportionales Spielzeug, wie aus einem Souvenirladen, oder eine amüsante historische Attraktion in einem Disneyland, in Bronze gegossen – und zeitgemäß »Made in China«. Es handelt sich um ein Geschenk der Kohle- und Schwesterstadt Hegang in der chinesischen Provinz Heilongjiang, die, nur durch den Amur getrennt, dem Autonomen Gebiet Birobidschan gegenüberliegt.

Der Schweizer Architekt und Gropius-Nachfolger als Direktor des Bauhauses, Hannes Meyer, hatte die Stadt auf Geheiß der Moskauer Führung im Jahre 1933 nach den Prinzipien einer sozialistischen Städteentwicklung entworfen. Inwieweit seine Pläne berücksichtigt wurden, ist nicht eindeutig nachzuvollziehen. Heute erinnern nur noch wenige Gebäude an die laut Propaganda »Goldenen Jahre des jüdischen Gebiets«, das im Zuge von Stalins antisemitischer Kampagne nach dem Zweiten Weltkrieg seine Stellung als Vorzeigeheimstatt für sowjetische Juden verlor.

An der Leninstraße 22 steht das Gebäude, in dem sich Druckerei und Redaktion der einzigen jiddischsprachigen Zeitung der Sowjetunion, dem »Birobidschaner Schtern«, befanden. Noch heute erscheint diese Zeitung, zwar in russischer Sprache, doch einmal wöchentlich mit einigen Seiten in Jiddisch. Das jüdische Theater hingegen wurde bereits Ende der 40er-Jahre geschlossen, später in einen Palast für Pioniere und Schulkinder umgewandelt und in den frühen 80er-Jahren abgerissen.

Lenin Ein kleines Mädchen kurvt in einem batteriebetriebenen Mini-Oldtimer um eine Schar Tauben, die sich auf der Scholem-Alejchem-Straße in der Sonne wärmen. Hin und wieder wirft ihnen ein unrasierter Rentner einige Brosamen zu. Der Mann selbst gönnt sich eine Flasche Bier. An einer Hauswand hängt ein Flugblatt mit dem Titel »Er war eine gigantische Persönlichkeit« – darunter ein Porträt von Lenin. Wenige Meter daneben klebt an einer Litfaßsäule eine Anzeige für Yoga-Kurse.

Auf einer Parkbank vor dem einstigen Bürgermeisteramt sitzt ein älteres Ehepaar mit seinem geistig behinderten Sohn. »Unsere Stadt ist schön, nicht wahr?«, fragen sie den vorbeischlendernden Besucher und folgern dann gleich selbst: »Sonst wären Sie ja nicht von so weit her zu uns gekommen.« Weil der Gast die Leute nicht enttäuschen will, geht er, freundlich nickend, weiter. »Danke für den Sieg«, heißt es da unter einem Wahlplakat der Partei »Einiges Russland«. Das Bild zeigt weiß gekleidete junge Frauen, Arm in Arm mit Kriegsveteranen, deren Westen mit Orden üppig beladen sind. Eine seltsame Eintracht, diese Paare – weltfremd und vielleicht gerade deshalb so passend zu Birobidschan.

Rabbiner Vielleicht lichtet sich das Nebulöse dieses Ortes ein wenig beim Gespräch mit dem Rabbiner. Das wird allerdings schwierig, denn Elyahu Riss ist gerade einmal 23 Jahre alt. Die UdSSR stand bei seiner Geburt kurz vor dem Zerfall. Noch hat er keinen Wikipedia-Eintrag wie sein Vorgänger Mordechai Scheiner aus Israel. Doch dafür ist Riss der erste Rabbiner in der rund 80-jährigen Geschichte der Stadt, der hier geboren ist. Seine Eltern seien überhaupt nicht religiös gewesen, gibt er ohne Zögern zu. Zwar habe es in seiner Kindheit keine Schinkenbrote gegeben, man ging aber auch nicht zur Synagoge – so wie die Mehrzahl der Sowjetjuden.

Vor zehn Jahren errichtete die in New York beheimatete Lubawitscher Bewegung die neue Synagoge, der Riss seit einigen Monaten stolz vorsteht. Voller Freude und mit viel Humor führt der hochgewachsene Rabbiner durch eine an den Gebetsraum angrenzende Ausstellung über jüdische Geschichte und Kultur.

Kindlich-naiv konzipiert, ist sie eine Art Puppenstube für Erwachsene: Ragusa-Schokolade und eine Fanta-Dose zur Illustration koscherer Lebensmittel fehlen hier ebenso wenig wie eine Chuppa samt Brautpaar aus Pappmaschee. In der historischen Ecke erinnern Listen mit Namen von KGB-Spitzeln innerhalb der jüdischen Gemeinde an die dunklen Seiten der Vergangenheit dieses Orts.

Noch existiert Stalins fernöstliches Jerusalem. Vor allem in den Köpfen. Die ebenfalls von den Chabad-Chassidim organisierte Sonntagsschule zieht mittlerweile auch Nichtjuden an. Obwohl die wenigsten der rund 4000 hier ansässigen Juden religiös sind, soll das jüdische Birobidschan nach dem Willen von Riss auch in Zukunft weiterleben.

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