Alija

São Paulo, adeus!

Brasilianische Neueinwanderer kurz nach ihrer Ankunft auf dem Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv Foto: Zed Films

Wen man derzeit auch fragt in den jüdischen Gemeinden von São Paulo oder Rio de Janeiro – fast alle kennen gleich mehrere, die auf gepackten Koffern sitzen oder fröhlich-traurige Abschiedsfeste mit Verwandten und Freunden feiern. Nie zuvor wanderten so viele brasilianische Juden nach Israel aus wie zurzeit. »Mein Sohn ist schon dort, und meine Freundin fliegt mit Mann und Kindern in wenigen Wochen« – ein Satz, den man derzeit häufig hört.

Zahlen Laut diversen Statistiken übersiedelten 2015 rund 500 brasilianische Juden nach Israel. Das ist ein Zuwachs von 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr und mehr als doppelt so viel wie 2013. Für dieses Jahr wird mit über 700 Auswanderern gerechnet. Immer mehr Juden lassen die Traumstrände des schönen Samba-Landes gern zurück, um sich im Nahen Osten eine neue Existenz aufzubauen.

Viele von ihnen wissen von mehreren Reisen sehr genau, was sie im jüdischen Staat erwartet: keine Angst vor Überfällen, Mord, Entführung und Schießereien mehr zu haben wie im »Guerra Urbana«, dem täglich tobenden Krieg in den brasilianischen Städten. Und nicht länger permanent um die persönliche Sicherheit besorgt zu sein. In Israel werden sie sogar nachts unbekümmert auf die Straße gehen können – in Brasilien undenkbar!

Die Journalistin Fabie Spivack lebt seit einiger Zeit in der Hafenstadt Aschdod und versucht, den brasilianischen Kollegen von einst ihre neue Heimat zu erklären: »Was man über die Situation in Israel liest, ist die eine Sache. Der Alltag hier hat damit überhaupt nichts zu tun. Ich fühle mich ausgesprochen sicher – es kommt niemand und will mich überfallen.«

In Brasilien hingegen werden pro Tag im Durchschnitt rund 150 Morde begangen, darunter viele politisch motivierte und zum Teil an Menschenrechtlern oder Umweltaktivisten. Doch in ausländischen Medien ist selten davon zu lesen. Gleiches gilt für die Tatsache, dass es in Brasiliens modernen Metropolen wie Rio und São Paulo eine regelrechte Vergewaltigungs- und Rachekultur gibt.

Nicht einmal hochrangige europäische Regierungspolitiker positionieren sich dazu, wenn sie in Brasilien unterwegs sind. Im Ranking der weltweit am meisten von Gewalt geprägten Städte führt Brasilien nach neuester UNO-Statistik und stellt von den 50 erstplatzierten gleich 21. Israelische Städte fehlen in der Statistik.

Es reicht, sagen daher immer mehr brasilianische Juden und bemerken auch bei anderen in ihrer Gemeinde eine zunehmende Brasilien-Müdigkeit. Seit 2014 verschärft sich die Dauerkrise des Landes, Armut, Elend und Obdachlosigkeit nehmen sichtbar zu – und damit auch Kriminalität und Gewalt im Alltag.

Integration Michael Abadi in Tel Aviv leitet die israelische Organisation Beit Brasil. Gemeinsam mit seinem großen Team erleichtert er den Ankommenden die Integration. Er wiegelt keineswegs ab. »Ich merke es – die Leute sind es leid, in Brasilien auf echte Verbesserungen zu warten«, sagt er der Jüdischen Allgemeinen. »Die Menschen haben die Zustände so viele Jahre lang ertragen und erleben jetzt in der Wirtschaftskrise erneut einen Rückschlag.« Viele fragten sich, ob sie diesmal doch besser in Israel noch einmal neu anfangen sollen. Schließlich hat das Land gerade in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht, und die Lebensqualität ist deutlich gestiegen.

Abadi ist in den vergangenen Jahren zum Brasilienkenner geworden. Nach dem, was er von vielen brasilianischen Juden gehört hat, wundert er sich nicht im Geringsten, dass sie wegziehen wollen. »Fragen wir Ankommende, ob sie schon einmal überfallen worden sind, bejahen das 95 Prozent! Hier undenkbar. Von den Messerattacken durch Palästinenser gab es hier in den schlimmsten Zeiten pro Woche höchstens zwei, drei Fälle landesweit. Allein in São Paulo kommt es jeden Tag zu 100-mal mehr Gewalttaten, Israels Kriminalitätsrate ist dagegen sehr, sehr niedrig.« São Paulo hat rund zwölf, Israel etwa neun Millionen Einwohner.

kriminalität In Brasilien gehören Juden zu den Bevölkerungsgruppen mit den besten Schulen, dem höchsten Bildungsniveau und daher auch mit den bestbezahlten Mittelschichtsberufen. In Krisenzeiten wie jetzt seien sie daher überproportional von Gewaltkriminalität betroffen, konstatieren israelische Medien immer wieder. Zur neuen, bisher größten Auswanderungswelle zählen auch deshalb Menschen aller Altersgruppen.

Brasiliens verschärfte Wirtschaftskrise ist erneut Folge einer nicht endenden politischen Krise, extrem hoher Staats- und Regierungskorruption – ja, einer regelrechten Korruptionsmentalität. Archaische Machteliten und die Politikerkaste werden als unpatriotische Ausplünderer wahrgenommen. Viele Juden können sich mit diesem Gesellschaftsmodell nicht identifizieren.

Aus der relativen sozialen Isolation ihrer Stadtviertel schauen sie mit sehnsuchtsvollen Augen auf Israel. Immer mehr sagen: Dem will ich mich anschließen, ich will ein Teil davon sein. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu, den die Mitarbeiter von Beit Brasil sehr oft bemerken: Viele Neuankömmlinge wollen ihre jüdische Identität und Religion vollkommener leben, als dies in Lateinamerika möglich ist.

Wirtschaft
Anfang 2016 hat sich Brasiliens wirtschaftliche Lage weiter verdüstert – auch hoch effiziente jüdische Unternehmen, darunter die renommierte Fluggesellschaft AVIANCA, sind betroffen. Sie verlor viele Fluggäste sowie an Marktwert.

Die Lebenshaltungskosten steigen rapide, auch immer mehr Juden werden entlassen. 2015 traf es mehr als 1,5 Millionen festangestellte Brasilianer. Ein Ende der Rezession – und auch der politischen Krise – ist nicht in Sicht. Das Bruttoinlandsprodukt Brasiliens sackte 2015 gegenüber 2014 um immerhin 24,6 Prozent ab.

In mehreren Weltrankings für Regierungseffizienz zählt Brasilien weiter zu den Schlusslichtern. Viele in der jüdischen Gemeinde schmerzt, dass Brasilien in den Augen der Welt immer unwichtiger wird. Auch das ist ein Grund, warum nicht wenige mental längst in einem anderen Land leben.

Großbritannien

Nike hat es »nicht böse gemeint«

Der Sportartikel-Konzern hing zum London Marathon ein Banner auf, das aus Sicht von Kritikern die Schoa lächerlich gemacht hat. Jetzt hat sich das Unternehmen entschuldigt.

 29.04.2025

Schweiz

Junger Mann wegen geplanten Anschlags auf Synagoge Halle verhaftet

Die Anschlagspläne soll er laut Staatsanwaltschaft zwischen Juli 2024 und Februar 2025 wiederholt in einer Telegram-Chatgruppe angekündigt haben

 29.04.2025

Sport

Nach Anti-Israel-Eklat: Jetzt sprechen die Schweizer Fechter

Bei der Nachwuchs-EM der Fechterinnen und Fechter kommt es in Estland zu einer viel diskutierten Szene. Nun haben sich die verantwortlichen Schweizer erklärt

 28.04.2025

Fecht-EM

Schweizer Fechter schauen bei israelischer Hymne demonstrativ weg

Nachdem die U23-Mannschaft der Schweizer Fechter gegen Israel protestierte, äußert sich nun der Schweizer Fechtverband und verurteilt den Vorfall

von Nicole Dreyfus  28.04.2025

Großbritannien

Israelfeindliche Aktivisten stören London-Marathon

Mitten im London-Marathon kommt es zu einer Protestaktion gegen Israel. Zwei Aktivisten springen auf die Strecke und streuen rotes Pulver

 27.04.2025

Essay

Wir gehen nicht allein

Zum ersten Mal hat unsere Autorin mit dem »Marsch der Lebenden« das ehemalige KZ Auschwitz besucht. Ein Versuch, das Unvorstellbare in Worte zu fassen

von Sarah Maria Sander  27.04.2025

Frankreich

Serge Klarsfeld: »Wir müssen vorbereitet sein«

Der Holocaust-Überlebende und Nazi-Jäger hat in »Le Figaro« einen dringenden Appell veröffentlicht und erneut für rechte Parteien geworben. Das Judentum sei bedrohter denn je, glaubt er

 25.04.2025

USA

Sharon Osbourne vs. die Anti-Israel-Popkultur

Rock-Veteranin Sharon Osbourne hat sich mit dem irischen Rap-Trio Kneecap angelegt, das offensichtlich meint, mit Hassrede gegen Israel seine Fanbase vergrößern zu können

von Sophie Albers Ben Chamo  25.04.2025

KZ-Gedenkstätte Auschwitz

Israels Präsident Isaac Herzog und Eli Sharabi beim »Marsch der Lebenden«

Auf dem Weg von Auschwitz nach Birkenau sind diesmal auch ehemalige israelische Geiseln der Hamas dabei. Israels Präsident Herzog erinnerte an die weiterhin in Gaza gefangen gehaltenen israelischen Geiseln

 24.04.2025