Russland

Ressentiments haben einen Namen

Boris Nemzow (1959–2015) Foto: Reuters

Russland

Ressentiments haben einen Namen

Die Causa Nemzow zeigt, wie man in Putins Reich antisemitische Stilmittel verwendet

von Robert Kalimullin  17.03.2015 22:58 Uhr

In einem Witz, den man sich in Russland erzählt, wird eine gewisse Berta Isaakijewna gefragt, ob sie Jüdin sei. »Wie kommen Sie darauf?«, fragt die Angesprochene zurück. »Wie wohl, Isaakijewna ist doch ein jüdischer Vatersname.« Berta Isaakijewnas Reaktion ist schlagfertig: »Dann ist die Isaakskathedrale wohl eine Synagoge.«

Die Isaakskathedrale ist die größte Kirche St. Petersburgs. Einen ernsten Hintergrund hat der Witz dennoch: Im Vielvölkerstaat Russland verraten Vor-, Vaters- oder Familiennamen oft den ethnischen Hintergrund einer bestimmten Person. Im allgemeinen Bewusstsein gibt es zahlreiche Namen, die traditionell als jüdisch wahrgenommen werden.

Nicht nur biblische Namen wie Isaak zählen hierzu. Auch der Name Boris etwa werde von Juden gerne gewählt, lässt sich einer offen antisemitischen russischen Webseite entnehmen, deren erklärtes Ziel darin besteht, Anhaltspunkte zur Identifizierung von Juden zu liefern.

Beileidstelegramm Nur vor dem Hintergrund einer derartigen Sensibilität für vom Namen tatsächlich oder vermeintlich mittransportierte Informationen lässt sich eine Diskussion verstehen, die sich nach dem Tod des Oppositionspolitikers Boris Nemzow entzündete.

Auf den Mord in Sichtweise des Kremls reagierte Staatspräsident Wladimir Putin mit einem Beileidstelegramm an die Mutter des 55-Jährigen. Putin richtete ihr darin sein »tiefes Mitgefühl angesichts des unersetzbaren Verlustes« aus. Adressiert war das Telegramm an Dina Jakowlewna Eidmann. Allein: Nemzows 1928 geborene Mutter hatte ihren Mädchennamen bereits 1952 abgelegt. Von ihrem Ehemann trennte sie sich später, den Nachnamen Nemzowa führte sie weiterhin.

Ein schlichtes Versehen des Kreml? Oder war der für jeden Russen verständliche Hinweis auf die mütterlicherseits jüdische Abstammung Nemzows, der sich selbst als orthodoxen Christen bezeichnete, ein »Fußtritt nach dem Tod«? Als Letzteres bezeichnete das Telegramm auf seiner Facebook-Seite der als Putin-Kritiker bekannte deutsche Journalist Boris Reitschuster.

Stalin Dina Nemzowa zumindest hat das Telegramm nach dem Tod ihres Sohnes noch weiter aus der Fassung gebracht, wenn man dem Facebook-Eintrag des mit der Familie befreundeten Geschäftsmanns und ehemaligen russischen Vizepremiers Alfred Koch glauben darf. Der Schreck wäre auch biografisch erklärbar: Nemzowas Heirat und das Ablegen ihres Mädchennamens fällt in die Zeit einer umfassenden antisemitischen Kampagne, die in der Sowjetunion unter Josef Stalin als sogenannter Kampf gegen die »wurzellosen Kosmopoliten« geführt wurde.

Als Antisemit wird Wladimir Putin allerdings auch von seinen schärfsten Kritikern selten bezeichnet. Im Gegenteil: Putin, der nach außen als Machtpolitiker und Wahrer russischer Interessen auftritt, hält innenpolitisch stets Abstand zu radikal-nationalistischen Kräften. Vielen gilt er gar als Freund und Unterstützer der jüdischen Gemeinde. Doch in Russland, so lässt sich der Widerspruch vielleicht am ehesten auflösen, muss kein überzeugter Antisemit sein, wer sich hin und wieder antisemitischer Stilmittel in seiner Rede bedient, wenn es gerade opportun scheint.

Ein Beispiel hierfür lieferte Ende der 90er-Jahre der mit Nemzow auf Kriegsfuß stehende jüdische Oligarch Boris Beresowski. Der amerikanische Journalist Mark Ames erinnerte in seinem Nachruf auf Nemzow daran, wie Beresowski damals die Präsidentschaftsambitionen Nemzows verhöhnte: »Es scheint mir, als hätte Nemzow ein rein genetisches Problem: Er ist ein Boris Jefimowitsch, manchmal ist er ein Boris Abramowitsch. Aber er möchte ein Boris Nikolajewitsch sein.«

Abramowitsch war Beresowskis (eindeutig jüdischer) Vatersname, Nikolajewitsch der russische Vatersname des amtierenden Präsidenten Jelzin. Dessen Nachfolger könne Boris Jefimowitsch Nemzow angesichts seiner jüdischen Herkunft unter russischen Verhältnissen nie werden, so Beresowski: »Zum Präsidenten wird man nicht, als Präsident wird man geboren.«

Faktencheck

Bei den Sydney-Attentätern führt die Spur zum IS

Nach dem Blutbad am Bondi Beach werden auch Verschwörungsmythen verbreitet. Dass der jüngere Attentäter ein israelischer Soldat sei, der im Gazastreifen eingesetzt wurde, entspricht nicht der Wahrheit

 17.12.2025

Analyse

Rückkehr des Dschihadismus?

Wer steckt hinter den Anschlägen von Sydney – und was bedeuten sie für Deutschland und Europa? Terrorexperten warnen

von Michael Thaidigsmann  17.12.2025

Nachruf

Albtraum in der Traumfabrik

Eine Familientragödie hat den Hollywood-Riesen und seine Frau aus dem Leben gerissen. An Rob Reiners Filmen voller Menschenliebe wie »Harry und Sally« ist eine ganze Generation mitgewachsen

von Sophie Albers Ben Chamo  17.12.2025

Australien

Der Held von Sydney

Während des judenfeindlichen Terroranschlags am Bondi Beach bewies ein muslimischer Familienvater unfassbaren Mut

von Sophie Albers Ben Chamo  17.12.2025

Sydney

54 Minuten Horror am Bondi Beach

Am 14. Dezember hat sich der schwerste antisemitische Anschlag auf australischem Boden ereignet. Unsere Korrespondentin berichtet über den schlimmsten Tag für die jüdische Gemeinschaft in Down Under

von Amie Liebowitz  17.12.2025

Meinung

Warum ich Sydney nicht verlassen werde

Der Terroranschlag von Bondi Beach wurde auch möglich, weil die Mehrheitsgesellschaft den Antisemitismus im Land ignoriert hat. Unsere Autorin sagt trotzdem: Ihre Heimat als Jüdin ist und bleibt Australien

von Amie Liebowitz  17.12.2025

Bulletin

Terrorangriff in Sydney: 20 Verletzte weiter im Krankenhaus

Fünf Patienten befinden sich nach Angaben der Gesundheitsbehörden in kritischem Zustand

 17.12.2025

Bondi Beach

Sydney-Attentäter wegen 15-fachen Mordes angeklagt

15-facher Mord, Terrorismus, Sprengstoffeinsatz - dem überlebenden Sydney-Attentäter werden 59 Tatbestände zur Last gelegt

 17.12.2025

Washington D.C.

Trump ruft zu Vorgehen gegen islamistischen Terror auf

Bei einer Chanukka-Feier im Weißen Haus spricht der Präsident den Hinterbliebenen der Opfer vom Anschlag in Sydney sei Beileid aus

 17.12.2025