Russland

Pavel Kuschnir ist tot

Brillanter Pianist und Kämpfer für die Wahrheit Foto: Public Domain

 »Es gibt kein Leben mehr im Faschismus.« Mit diesen Worten beginnt ein Videoclip, in dem ein Mann in gestreiftem Shirt vor einer Leuchtkette und mit glitzernder Lametta-Girlande über der Schulter innerhalb von 50 Sekunden kurz und knapp seine Verurteilung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zum Ausdruck bringt. Er endet mit dem Aufruf: »Nieder mit dem Putin’schen Regime! Freiheit für alle politischen Gefangenen! Freiheit für alle Gefangenen! Und überhaupt – Freiheit für alle!«

Für Pavel Kuschnir, den Protagonisten, endete das Leben in Unfreiheit. Ende Mai fand sich der 39-jährige hochtalentierte Pianist in der Hauptstadt der jüdischen autonomen Oblast Birobidschan in Untersuchungshaft wieder. Am 27. Juli starb er dort an den Folgen eines Hungerstreiks. Sogar die Aufnahme jeglicher Flüssigkeit hatte er verweigert. Infusionen hätten nichts gebracht, so teilte es ein Ermittler des Inlandsgeheimdienstes FSB Kuschnirs Mutter Irina Lewina mit. Ihr Sohn galt den russischen Behörden als gemeingefährlich, was diese ihm konkret vorwerfen, erschließt sich ihr nicht.

Eine über alle Maßen hinaus zugespitzte Interpretation

Öffentliche Aufrufe zum Terrorismus, heißt es lapidar in der Strafsache gegen Kuschnir. Eine über alle Maßen hinaus zugespitzte Interpretation, wies der Youtube-Kanal des Profimusikers mit nur vier Videobeiträgen, der als Anlass für die Strafverfolgung diente, zum Zeitpunkt von Kuschnirs Festnahme doch weniger als ein halbes Dutzend Follower auf. Erst sein Tod hinter Gefängnismauern brachte ihm Zulauf und Berühmtheit, etwas, worauf er zu Lebzeiten keineswegs abzielte. Wenn er jedoch zu Interviews ins Radio und Fernsehen eingeladen wurde, sagte er nicht nein. Aufrichtig und glaubhaft, bescheiden, hochsensibel, belesen und mit einem verblüffenden Tiefgang legte er dabei seine Auffassung von Kunst dar: ohne couragiertes Handeln keine persönliche Entwicklung – nur daraus entstehe wahre Kunst.

Lesen Sie auch

Geboren und aufgewachsen ist Pavel Kuschnir in Tambow, wo er bereits in frühester Kindheit mit dem Klavierspiel in Berührung kam. Dort besuchte er auch die Musikschule, studierte später am Moskauer Konservatorium und nahm nach seinem Abschluss Engagements als Solopianist in Jekaterinburg, Kursk, Kurgan und schließlich Birobidschan an. Musikkenner bescheinigen ihm eigenwillige Interpretationskunst klassischer Kompositionen auf allerhöchstem Niveau. Eigens hervorgehoben wurde Kuschnirs außergewöhnliches Vermögen, den gesamten Zyklus aus 24 Präludien und Fugen des russischen Komponisten Dmitrij Schostakowitsch in einem Zug zu spielen.

Auch wenn Kuschnir die klassische Musik zum Beruf gemacht hat, fand er inspirierende Vorbilder jenseits davon. Nirvana-Sänger und Gitarrist Kurt Cobain verkörperte für ihn das Ideal des Künstlers. Selbiges galt für die Hippie-Ikone Janis Joplin oder für Janka Djagilewa, Songschreiberin, Sängerin und Underground-Idol der späten Sowjetzeit. Sergej Rachmaninow sei ein großartiger Komponist und eine Ausnahmeerscheinung, aber die klassische Musik teste ihre Grenzen nicht in einer Weise aus, wie es die Rockmusik vermag, konstatierte Kuschnir in einem Interview.

In Haft wegen eines Youtube-Kanals mit fünf Followern

Serienheld Fox Mulder, fiktionaler FBI-Agent, der sich in »X Files« mit außerirdischen Phänomen befasst, diente ihm als Namensgeber für seinen Youtube-Kanal »Inoagent Mulder«, verkürzt für »ausländischer Agent«. Utopisches Denken jenseits gängiger Konventionen faszinierte Kuschnir, dabei hielt ihn die harte Realität gefangen. Seine Jugendfreundin Olga Schkrygunowa berichtete, nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine sei er mehrmals aus Protest in den Hungerstreik getreten. Bei aller Kritik an Wladimir Putin legte er Mulder die Worte »aber schuld sind wir« in den Mund.

In Birobidschan beabsichtigte Kuschnir zwölf Jahre zu bleiben bis zu seinem 50. Geburtstag, vorausgesetzt »ich bin dann noch am Leben, gesund und werde nicht zur Armee eingezogen oder ins Gefängnis gesteckt«.

Am Donnerstag wird er in Birobidschan beerdigt.

Am 6. August ist sein Buch »Russischer Aufschnitt« erschienen, bisher allerdings nur auf Russisch. Kushnir hatte es selbst 2014 online veröffentlicht, es wurde aber nie gedruckt. Mitstreiter haben das Manuskript nun in nur 48 Stunden vorbereitet und in Deutschland fertigen lassen, heißt es bei Amazon.

Argentinien

Raubkunst in der Immobilienanzeige

Die Tochter eines Naziverbrechers wollte ihre Villa verkaufen und führte Ermittler auf die Spur einer gestohlenen Kunstsammlung

von Andreas Knobloch  13.09.2025

München/Gent

Charlotte Knobloch spricht von »historischem Echo«

Nach der Ausladung des israelischen Dirigenten Lahav Shani von einem Musikfestival meldet sich Charlotte Knobloch mit deutlichen Worten

 11.09.2025

Italien

Jüdisches Touristen-Paar in Venedig attackiert

Die Täter schrien »Free Palestine«, bevor sie die Ehefrau mit einer Flasche attackierten und ihren Ehemann ohrfeigten

 11.09.2025

Georgien

Sicher und schön

Der Kaukasus-Staat pflegt Erbe und Zukunft der Juden. Und bietet atemberaubende Natur. Ein Besuch

von Michael Khachidze  11.09.2025

Belgien

Argerich, Maisky, Schiff empört über Gent-Festival

Bekannte jüdische und nichtjüdische Musiker haben eine Petition gestartet, um gegen die Ausladung der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani zu protestieren

 11.09.2025

Imanuels Interpreten (13)

Herb Alpert: Der Universalkünstler

Vom Trompeter zum Philantropen: Der Sohn jüdischer Einwanderer aus Kalifornien erreichte in den 90 Jahren seines bisherigen Lebens viel

von Imanuel Marcus  10.09.2025

Bundesamt für Statistik

Dieser hebräische Vorname ist am beliebtesten bei Schweizer Eltern

Auch in der Schweiz wählen Eltern weiterhin häufig biblische Namen für ihr Neugeborenes

von Nicole Dreyfus  10.09.2025 Aktualisiert

Südafrika

Unvergessliche Stimme

Die Schoa-Überlebende Ruth Weiss hat sich als Journalistin, Schriftstellerin und Kämpferin für Menschenrechte einen Namen gemacht. Sie wurde 101 Jahre alt. Ein Nachruf

von Katrin Richter  10.09.2025

Belgien

Aus der Straße des Antisemiten wird die Straße der Gerechten

In Brüssel gibt es jetzt eine Rue Andrée Geulen. Sie ist nach einer Frau benannt, die im 2. Weltkrieg mehr als 300 jüdische Kinder vor den deutschen Besatzern rettete. Doch bei der Einweihung herrschte nicht nur eitel Sonnenschein

von Michael Thaidigsmann  08.09.2025