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Orthodoxe Kämpferin

»Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben als orthodoxe jüdische Frau«: Blu Greenberg (85) Foto: JOFA

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Orthodoxe Kämpferin

Blu Greenberg, eine Ikone und Pionierin des jüdischen Feminismus, engagiert sich seit Jahrzehnten

von Katja Ridderbusch  23.08.2021 23:21 Uhr

Manchmal ist Blu Greenberg selbst überrascht, wie ein kleiner Zufall ihr Leben in eine neue Richtung lenkte. 1973 fand im legendären Hotel McAlpin in Manhattan die First National Women’s Conference statt, die erste Konferenz jüdischer Frauen. Eigentlich sollte Greenberg nur einen Workshop geben, aber als kurzfristig die Eröffnungsrednerin ausfiel, sprang sie ein. »Die Konferenz hat mein Leben verändert«, sagt die heute 85-Jährige. »Am nächsten Tag war ich auf einem neuen Weg, und fast 50 Jahre später bin ich noch immer auf diesem Weg.«

Greenberg, geboren als Bluma Genauer in Seattle, ist eine Ikone und Pionierin des jüdischen Feminismus. Ihre Bücher, allen voran On Women and Judaism, sind längst Klassiker. Greenberg gründete die Jewish Orthodox Feminist Alliance (JOFA), die Orthodoxe Feministische Allianz, in der sie bis heute engagiert ist. Sie hält Vorträge in den USA, Israel und Europa. Besonders der interreligiöse Dialog liegt ihr am Herzen: Sie gehörte zu den Gründerinnen eines Dialogforums für jüdische und palästinensische Frauen sowie der jüdisch-christlich-muslimischen Gruppe »Women of Faith«.

DIALOG Zwar lagern viele ihrer Schriften und Tonaufzeichnungen heute in einer Bibliothek der Harvard University in Boston, aber Greenberg – mit lachenden Augen, brauner Bob-Frisur und roten Lippen, ist weit von der Selbstarchivierung entfernt. Mindestens einmal am Tag trifft sie ihre Kolleginnen von der JOFA in New York zu einer Zoom-Konferenz, und gemeinsam planen sie Veranstaltungen für die nächsten Monate.

Greenberg ist eine Brückenbauerin zwischen zwei Lebenswelten, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen: Feminismus und orthodoxes Judentum. »Wo es einen rabbinischen Willen gibt, da gibt es auch einen halachischen Weg«, hat sie einmal gesagt. Ihr berühmt gewordenes Diktum ist zugleich ihr Lebensmotto.

»Wo es einen rabbinischen Willen gibt, da gibt es auch einen halachischen Weg.«

Zum Feminismus sei sie »eher von einer intellektuellen Position gekommen«, sagt sie. Sie hege persönlich keinerlei Ressentiments gegenüber dem orthodoxen Judentum, obwohl sie immer wieder an Grenzen stieß, die der Lebensrahmen ihrer Religion setzte. »Ich bin in einem orthodoxen Haus aufgewachsen, ich hatte eine wunderbare Kindheit. Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben als orthodoxe jüdische Frau.«

czernowitz Greenbergs Vater, Sam Genauer, wurde 1906 in Czernowitz im damaligen Österreich-Ungarn und der heutigen Westukraine geboren. Im Alter von zwei Jahren kam er in die USA, nach New York, ging zur Schule, besuchte das Rabbinerseminar. Er heiratete, zog nach Seattle und ging später mit seiner Frau und drei Töchtern zurück nach New York.

Greenberg hatte eine gute jüdische Erziehung, sagt sie, »so gut wie sie ein jüdisches Mädchen nur haben kann«. Vom Talmudstudium blieb sie ausgeschlossen, und selbst eine Batmizwa galt im orthodoxen Judentum bis in die 70er-Jahre als »eine Erfindung des Reformjudentums« und war allein schon deshalb verpönt.

Greenberg studierte Politische Wissenschaften am Brooklyn College, machte einen Master in Klinischer Psychologie an der City University of New York und einen Master in Jüdischer Geschichte an der Yeshiva University. Sie studierte ein Jahr in Israel und wäre gerne länger geblieben, fügte sich aber der Bitte ihrer Eltern, nach Hause zurückzukehren.

FAMILIE 1957 heiratete sie den Autor und Holocaust-Forscher Irving, genannt »Yitz«, Greenberg, der damals als Gemeinderabbiner in Riverdale, New York, arbeitete. Er gilt als Vertreter eines offenen und modernen orthodoxen Judentums.

Blu und Yitz bekamen fünf Kinder: drei Jungen und zwei Mädchen. Der jüngste Sohn J.J. starb im Alter von 37 Jahren in Israel bei einem Verkehrsunfall. Heute leben drei der Kinder mit ihren Familien in Israel, in Jerusalem und in Ra’anana nordöstlich von Herzlija. Eine Tochter wohnt in den USA.

Ihre erste Begegnung mit der Ideenwelt des Feminismus hatte Blu Greenberg bei der Lektüre von Betty Friedans Klassiker Der Weiblichkeitswahn aus dem Jahr 1963 – ein Buch, das ihr Mann ihr von einer Dienstreise mitgebracht hatte. Das Buch inspirierte sie, doch radikalen Feminismus lehnt Greenberg ab, bis heute. »Das ist nicht mein Weg«, sagt sie. Sie ist überzeugt: »Als orthodoxe jüdische Frauen können wir klar definierte Rollen haben und dennoch gleichberechtigt sein.«

reform Damals, nach der Konferenz von 1973, als sie in die Welt des jüdischen Feminismus eintauchte, identifizierte sie mehrere Bereiche, die aus ihrer Sicht der Reform bedurften: Aus- und Weiterbildung, Religiöse Zeremonien und Liturgie, die Rolle von Frauen in Führungspositionen, zum Beispiel in Schulen, sowie deren Status vor Gericht, insbesondere als Zeuginnen. Und vor allem: das halachische Scheidungsrecht. In nahezu allen Bereichen habe es seitdem Fortschritte gegeben, sagt Greenberg.

Die Batmizwa gehört mittlerweile zur Norm, und es gibt heute orthodoxe Rabbinerinnen. Und selbst in ultraorthodoxen Gemeinden treten immer mehr Frauen in die Arbeitswelt ein, allein schon, damit ihre Männer die Tora studieren können. Was auch immer der Grund sei – »im Ergebnis haben die Frauen eine Ausbildung, sie lernen etwas Neues und weiten ihren Horizont«, betont Greenberg.

»Das Judentum ist eine Weltklassereligion – mit einem primitiven Scheidungsrecht.«

Beim jüdischen Scheidungsrecht jedoch seien die Reformbemühungen bislang weitgehend gescheitert, sagt Greenberg. Nach halachischem Recht ist eine Scheidung nur gültig, wenn der Mann der Frau einen Scheidebrief, einen Get, gibt. Weigert er sich oder ist er verschollen, so wird die Frau zu einer Aguna, einer »Angeketteten«.

VERWEIGERER Ohne einen Get kann die Frau nicht wieder heiraten, und falls sie Kinder aus einer neuen Beziehung bekommt, gelten diese nach jüdischem Recht als Mamserim, Bastarde, die schweren religiösen und juristischen Beschränkungen unterliegen. Es ist unklar, wie viele Agunot derzeit in Israel und den USA leben – Schätzungen gehen von Tausenden aus.

In den vergangenen Jahren hat der Staat Israel den Druck auf die Get-Verweigerer erhöht, mit Online-Pranger, mit Geld- und Gefängnisstrafen. Auch Eheverträge gelten als ein vielversprechender Ansatz. Doch eine grundsätzliche Lösung brächten diese Maßnahmen nicht, sagt Greenberg. »Das Problem sind nicht ein paar störrische Rabbiner. Das Problem ist das Gesetz selbst.« Ihr sei bewusst, dass sie sich mit dieser Position Feinde mache, sagt sie und zuckt mit den Schultern.

»Aber es ist nun einmal so: Das Judentum ist eine Weltklassereligion – mit einem primitiven Scheidungsrecht.«

Aus der Distanz ihres Lebens zwischen Israel und den USA beobachtet Blu Greenberg aufmerksam, weitgehend wohlwollend, aber niemals unkritisch die aktuelle Entwicklung des Feminismus, des jüdischen wie des säkularen.

MeToo hält sie für eine wichtige Bewegung – der Kampf gegen sexualisierte Gewalt sei längst überfällig. Allerdings gebe es immer wieder Exzesse, sagt Greenberg. Einige Vertreterinnen von MeToo seien so ideologisch, so selbstgerecht, so ohne Sinn für Balance und Fairness, »dass die Bewegung bisweilen einen Teil ihrer Integrität verliert. Das ist schade und schmerzlich«.

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