In wohl kaum einer anderen russischen Stadt ist der Zweite Weltkrieg heute so präsent wie in Wolgograd. Ihren vorherigen Namen Stalingrad legte die Stadt zwar bereits vor 50 Jahren ab. Doch die Schlacht um Stalingrad prägt nach wie vor das äußere Erscheinungsbild des von der Sowjetunion als »Heldenstadt« ausgezeichneten Ortes wie auch das Bewusstsein seiner Einwohner. Denkmäler und Erinnerungen an heldenhafte Soldaten und zahlreiche Opfer finden sich auf Schritt und Tritt. Gedanken an die Schoa kommen vor diesem Hintergrund gar nicht erst auf.
»Wir dachten hier selber immer nur an Heldentum, Kämpfe, Krieg und waren der Ansicht, dass die zielgerichtete Ermordung der jüdischen Bevölkerung hier bestimmt kein Thema ist«, sagte Yael Yoffe der Jüdischen Allgemeinen.
Erneuert Die energische Leiterin des jüdischen Gemeindezentrums zog mit ihrer Familie 1999 aus Nischni Nowgorod in die südrussische Stadt, um hier einen Ort zu schaffen, an dem jüdisches Leben wieder aufblühen kann. Dieses Ziel hat sie erreicht. Seit 1999 entstanden in dem roten Backsteingebäude, das die jüdische Gemeinde Ende des 19. Jahrhunderts errichtet hatte und das eines der wenigen in der Stadt ist, die den Krieg überstanden haben, eine jüdische Schule und ein Kindergarten.
Doch trotz der vielen alltäglichen gegenwartsbezogenen Aufgaben lässt Yoffe die Vergangenheit der Stadt nicht los. Vor allem seit 2006, als die Gemeinde vom örtlichen Panorama-Museum »Die Schlacht um Stalingrad« eine Landvermessungskarte erhielt, aus der hervorgeht, dass sich auf einem Platz im Stadtzentrum zwei Massengräber befinden. In dem einen sind Soldaten der 62. Armee bestattet, die Stalingrad verteidigt haben sowie Angehörige der örtlichen Zivilbevölkerung. In dem Grab daneben befinden sich die Überreste von mehr als 600 jüdischen Opfern des deutschen Terrors.
Getilgt Selbst während der Schlacht bei Stalingrad arbeiteten die deutschen Besatzer an der »Endlösung«. Dies konnte nach dem Krieg anhand von Befragungen ermittelt werden. Allerdings flossen sie nicht in die Ergebnisse der offiziellen Untersuchungskommissionen ein. Denn im sowjetischen Geschichtskanon fanden die besonderen Aspekte der Ermordung der jüdischen Bevölkerung keinen Platz.
Ohne auf Widerstand bei den lokalen Behörden zu stoßen, errichtete das Gemeindezentrum 2007 an dem Grab einen Gedenkstein, aus dem bereits eine Woche später Unbekannte das Wort »Juden« herausritzten und Beschimpfungen hinzufügten. Von Anfang an war die Errichtung eines Granitdenkmals in Form eines Davidsterns angedacht.
Das erfordert allerdings ein kompliziertes Abstimmungsverfahren, und derzeit gilt es noch einige formale Fragen zu klären. So gibt es bislang keine exakte Bodenvermessung des Platzes, was sich insofern als Problem erweist, als sich die Zuständigkeiten für Soldatengräber und Grabstellen der Zivilbevölkerung auf die föderalen und lokalen Behörden verteilen.
Verboten Wegen der geplanten Aufschrift – »Hier haben 1942/43 Nationalsozialisten Juden ermordet« – erteilte die für die Aufsicht über das Kulturerbe zuständige Behörde Rosochrannadzor dem Denkmalprojekt hingegen eine inhaltlich begründete kategorische Absage.
Der faschistische Terror, so die Argumentation, richtete sich gegen die gesamte Bevölkerung, weshalb nicht eine bestimmte Gruppe hervorgehoben werden dürfe. Doch damit nicht genug. In der Gebietsverwaltung hieß es lapidar, der Inlandsgeheimdienst FSB störe sich an dem Wort »Juden«. Und die Stadtverwaltung ihrerseits fordert ein »vandalismusbeständiges« Denkmal ohne Ecken und Kanten.
Yael Yoffe hofft auf einen Personalwechsel bei den Entscheidungsträgern. Zumindest seien die Behörden in anderen Regionen durchaus offen für die Errichtung von Denkmälern für ermordete Juden. In Rostow am Don, dem »russischen Babi Jar«, zeigt sich jedoch eine ganz andere Tendenz: Ende November ließ die Stadtverwaltung eine an die jüdischen Opfer erinnernde Aufschrift gegen einen für die Sowjetunion typischen Text über »friedliche sowjetische Bürger« ersetzen.