Europa

Netzwerk für die Zukunft

Bleischwer hängen graue Wolken über Berlin-Mitte. In der obersten Etage eines modernen Glas-Stahl-Baus am Rosenthaler Platz ist von dieser Schwere nichts zu spüren, obwohl man dem Himmel dort ganz nahe ist. An nummerierten Tischen sitzen Männer und Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Sie reden miteinander – worüber, das steht auf zwei Tafeln in der Mitte des Raums. Jeder Tisch hat ein eigenes Thema. Am Tisch mit der Nummer 10 geht man zum Beispiel der Frage nach, wie sich Menschen dazu bewegen lassen, Verantwortung zu übernehmen. Tisch 4 diskutiert über »Ein muslimisches Europa. Herausforderungen? – Bedrohung? – Befreiung?«

global Rund 50 junge Menschen aus 20 Ländern sind für drei Tage zu einer Konferenz nach Berlin gekommen, um darüber nachzudenken, wie sie die jüdischen Gemeinden in Europa beleben können. Alle Teilnehmer gehören zur sogenannten ROI-Community, einem globalen Netzwerk jüdischer Führungskräfte. »ROI ist die Abkürzung für «Return on Investment» (Deutsch: Kapitalanlage), erklärt Justin Korda, der Direktor der Initiative. Gegründet vor sechs Jahren, gehören inzwischen rund 850 Mitglieder zur Community. «Wir wollen weltweit junge jüdische Aktivisten zusammenbringen, damit sie sich vernetzen und untereinander austauschen», so Korda.

Genau das tun sie an den nummerierten Tischen in Berlin. Um das Kärtchen mit der Nummer 9 sitzen drei Frauen und denken darüber nach, wie man in Europa die jüdischen Gemeinden integrieren kann. «Bei uns sind viele genervt, wenn schon wieder zu einem Klezmerkonzert in die Synagoge eingeladen wird», sagt die eine, sie kommt aus Warschau. «Na, dann macht doch ein Rockkonzert!», entgegnet ihre Nachbarin, die zur Berliner Gemeinde gehört.

Das Problem liege ganz woanders, sagt die Warschauerin: «Viele Juden kapseln sich ab.» So gern würde sie ein jüdisches Couch-Surfing ins Leben rufen, ein weltweites Gastfreundschaftsnetzwerk. Sie selbst schläft seit Jahren auf ihren Reisen gratis auf fremden Sofas und denkt oft darüber nach, ein jüdisches Pendant aufzubauen. «Aber Juden sind aus Sicherheitsgründen wenig bereit, ihr Foto und ihren Namen im Internet öffentlich zu machen», bedauert sie, «viele sind paranoid.» In Amerika sei das kein Problem, sagt eine Frau aus Washington, die sich zu ihnen gesetzt hat.

schoa Am Nachbartisch mit der Nummer 8 sitzen zwei Männer und eine Frau. Sie diskutieren über «Das Bild des Holocaust in europäischen Medien und Bildungsmaterialien heute». Die Frau – sie heißt Klaudia und kommt aus Krakau – berichtet den beiden Männern von einem Treffen mit Roma. «Die haben haargenau das Gleiche erzählt wie unsere Überlebenden», sagt sie. Die beiden Männer am Tisch – der eine lebt in Stockholm, der andere in New York – nicken. Der Jüngere gibt zu bedenken: «Und dann gibt es unter den Opfern ja auch noch die Homosexuellen.» Zum Schluss fasst der Ältere zusammen: «Der Holocaust ist etwas Universales, er betrifft nicht nur uns.» Wenig später setzt sich Ilan, ein junger Mann aus Paris, an den Tisch. «Wir müssen bei der Vermittlung der Schoa auch über Freundschaft und Solidarität sprechen», sagt er, «bei uns in Frankreich zum Beispiel wurden Tausende Juden gerettet.» Und so setzt sich die Diskussion fort, an Tisch 8 ebenso wie an den anderen Tischen.

Gegen Ende der Gesprächsrunde bittet der Moderator, ein junger Mann namens Jim, dass die Teilnehmer auf kleine farbige Klebezettel schreiben, was sie aus den Gesprächen gelernt haben. An Tisch 8 greift Klaudia zum Stift und schreibt auf, was die Gruppe zusammenfasst: «1. Der Holocaust ist nicht nur eine jüdische Angelegenheit. 2. Die Beziehungen zwischen Juden und anderen Bevölkerungsgruppen während der Schoa sollten nicht ausschließlich negativ bewertet werden. 3. Was können Juden der Welt außer Schoa-Themen noch geben?»

Zum Schluss bittet der Moderator alle Teilnehmer, die Zettel vorzulesen; sie sollen an ein Fenster geklebt werden. Großen Jubel und Zustimmung gibt es, als eine Frau mit lockigem Haar vorliest: «Wir müssen ein aktiver Teil der Gesellschaft sein, nicht nur ein kleiner Klub.» «Bingo!», ruft ein junger Mann, und viele jubeln zustimmend. So landet auch dieser farbige Zettel auf der Fensterscheibe: die bunte Zukunft des europäischen Judentums vor dem grauen Himmel über Berlin.

gespräche «Visionen und Perspektiven der jüdischen Gemeinden in Europa» sind das Thema einer Gesprächsrunde am späten Nachmittag, unter anderem mit Barbara Spectre, der Direktorin von «Paideia», dem Europäischen Institut für Jüdische Studien in Stockholm, und Stephan J. Kramer, dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland – beide Einrichtungen unterstützen die Konferenz.

«Aber wir bringen nicht viele Referenten von außen», betont ROI-Direktor Korda, «denn wir glauben, dass die Teilnehmer der Inhalt sind.» Und so versammeln sich die jungen Frauen und Männer nach der Pause in vier Gruppen, um Aktivisten aus den eigenen Reihen zu hören. Eine von ihnen ist die schwedische Menschenrechtlerin Isabel Sommerfeld, die den Teilnehmern anhand ihres Engagements in Weißrussland erklärt, wie man erfolgreich eine politische Kampagne führt.

Im Nachbarraum zeigt Debbie Danon aus London anhand praktischer Beispiele, was sich hinter dem Begriff «Inklusive Sprache» verbirgt. Die junge Frau arbeitet im Londoner Three Faiths Forum (3FF), einer Initiative für den interkulturellen und -religiösen Dialog. «Wir bilden Lehrer aus, die Partnerschaften zwischen jüdischen und muslimischen Schulen gründen wollen», sagt sie. Zum Schluss ihrer Präsentation verteilt sie zwei Blätter mit Tipps für den interreligiösen Dialog. Die Teilnehmer greifen beherzt zu. Voneinander zu lernen, ist schließlich der Sinn des Treffens.

www.roicommunity.org

Großbritannien

Verdächtiger nach Anschlag auf Synagoge in Manchester festgenommen

Der Angriff auf die Synagoge am Vorabend des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur sorgte international für Bestürzung. Jetzt wurde ein weiterer Tatverdächtiger festgenommen

von Burkhard Jürgens  27.11.2025

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

Interview

»Meinungsvielfalt gilt es auszuhalten« 

Am 8. Dezember wählt die Gemeindeversammlung der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich ein neues Präsidium. Zur Wahl stellen sich Noëmi van Gelder sowie Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein für ein Co-Präsidium. Ein Gespräch über Herausforderungen an die Gemeinde, Grabenkämpfe und Visionen

von Nicole Dreyfus  27.11.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 27.11.2025

Schweiz

Antisemitismus auch in der queeren Szene benennen

Viele Jüdinnen und Juden fühlen sich teils unsicher, wenn in der queeren Szene über Israel gesprochen wird. Der Verein Keschet will das ändern

von Nicole Dreyfus  27.11.2025

Das Ausmalbuch "From the river to the sea" in einer Buchhandlung in Zürich.

Meinung

Ausmalen gegen die Realität

Kinderbücher sollten nicht dazu instrumentalisiert werden, Kinder niederschwellig zu prägen

von Zsolt Balkanyi-Guery  27.11.2025

USA

Personifizierter Hass

Menschen wie Nick Fuentes waren lange ein Nischenphänomen. Nun drängen sie in den Mainstream - und sind gefährlicher denn je

von Sophie Albers Ben Chamo  26.11.2025

Meinung

Die polnische Krankheit

Der Streit um einen Tweet der israelischen Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem zeigt, dass Polen noch immer unfähig ist, sich ehrlich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen

von Jan Grabowski  26.11.2025

USA

Ein Stadtneurotiker wird 90

Woody Allen steht als Autor, Regisseur und Schauspieler für einzigartige Filme. Doch bis heute überschatten Missbrauchsvorwürfe sein Lebenswerk

von Barbara Schweizerhof, Sophie Albers Ben Chamo  26.11.2025

Orange Day

Palina Rojinski spricht über Gewalt in früherer Beziehung

Wie viele Frauen hat auch die Moderatorin einst in einer Beziehung Gewalt durch ihren Partner erfahren. Darüber spricht sie nun auf Instagram. Sie will anderen Mut machen, sich Hilfe zu holen

 25.11.2025