Ágnes Heller

»Mit 15 war ich schon erwachsen«

Es ist früher Nachmittag. Ágnes Heller empfängt im Flur ihrer Budapester Wohnung. Ein beiger Wollmantel liegt bereit, sie greift die Handtasche, und schon geht es los. Mit kleinen wippenden Schritten balanciert die zierliche alte Dame kurze Zeit später über Treppen, Bordsteine und sonstige Wagnisse zwischen Straße und Schiene. Sie nehme immer die Bahn, erklärt sie mit couragiertem Ton, »eine wunderbare Strecke die Donau entlang, eine der schönsten, die ich kenne«.

Glück Dabei wäre ihr ebendiese Donau im Alter von 14 Jahren beinahe zum Verhängnis geworden. Die Bahn passiert das Mahnmal der »Schuhe am Donauufer«, wo ungarische »Pfeilkreuzler« 1944 bis zu 3600 jüdische Ungarn zusammentrieben und erschossen. Sie habe Glück gehabt, erzählte sie vor Jahren in einem Interview, denn jedes Mal, kurz bevor sie an der Reihe sein sollte, war die Munition alle.

»Alles, was ich später schrieb, habe ich von meinem Vater gelernt.«

Später gelang es Ágnes Heller, auf dem Weg zum Ghetto zusammen mit ihrer Mutter zu fliehen – sie sprangen kurzerhand in eine offene, überfüllte Straßenbahn. Die Menschentraube öffnete sich, ließ die beiden Flüchtenden ein und umschloss sie in dem sicheren Kreis der anonymen Menge. Bewaffnete und Aufsichtspersonen trauten sich nicht, von außen hinein zu schießen. »Mit dieser Straßenbahn sind wir Auschwitz entkommen«, sagt sie.

Für ihren Vater galt das nicht, er wurde deportiert. Dabei war gerade er es, der die Tochter prägte und motivierte, mit ihr Politik besprach und Zeitung las. Irgendwann stellte er fest, seine Tochter solle später beruflich etwas anderes machen, auf jeden Fall nichts Typisches für Mädchen, vielleicht etwas mit Politik oder Philosophie. »Alles, was ich später über Moralphilosophie geschrieben habe, habe ich von meinem Vater gelernt, obwohl er es gar nicht so genannt hat«, sagt sie. Ihr Vater ist ihr großes Ideal – bis heute. »Er war ein guter und ehrlicher Mensch.« Heute hält Ágnes Heller Vorträge über die »Schönheit des guten Menschen«.

ANKER »Mit 15 war ich schon erwachsen«, sagt die Philosophin knapp und kneift die Lippen zusammen. Ihr Gesicht ist ernst, die braunen Augen wach, der Blick liebevoll. Sie ist auch im Alter neugierig geblieben auf Menschen, auf Wissen, auf Bücher, auf das Denken überhaupt. Es fasziniert sie, wenn jemand seine Gedanken exakt ausdrückt, um zu erklären, was ihn umtreibt. Ágnes Heller ist ein politischer Mensch, ein unbequemer.

Zu spüren bekam sie die Reaktion auf ihre Haltung erneut nach 1945 in Ungarn. Der berufliche Weg war kein einfacher: Sie studierte zunächst Naturwissenschaften – ihr großes Vorbild war schon immer die Physikerin und Chemikerin Marie Curie. Als sie durch Zufall eine Vorlesung von Georg Lukács in Philosophie hört, wechselt sie das Studium, bleibt diesem Fach treu und promoviert später bei Lukácz, der beruflich ihr Leben prägen sollte.

Australien Doch Ágnes Heller kennt auch lange Durststrecken. Die Einladung, ab 1977 in Australien Philosophie zu lehren, war ein Rettungsanker in jeglicher Hinsicht. Für den unangepassten Freigeist war es damals viel zu eng in Ungarn geworden. Später wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt am Lehrstuhl für Philosophie der New School for Social Research in New York.

Trotz allem ist sie jetzt wieder in ihre ungarische Heimat zurückgekehrt und eine gefragte und geschätzte Gesprächspartnerin, auch an diesem Tag. Sie ist zu Gast auf der Budapester Buchmesse. Seit Jahren ist sie dem jüdisch geprägten, ungarischen Verlag »Múlt és Jövö« eng verbunden. Hier erscheinen ihre Bücher.

Als sie durch Zufall eine Vorlesung von Georg Lukács in Philosophie hört, wechselt sie das Studium.

Angekommen am kleinen Stand des Verlags, sucht sie nach einem Platz, setzt sich genügsam auf einen Plastikstuhl. Sofort wird sie umringt von Lesern, Freunden, Kollegen. Vor ihr liegt ihr aktuelles Lese-Tagebuch, ein Buch über all das, was sie selbst Monat für Monat gelesen und aufgesogen hat – etliche sehr unterschiedliche Bücher, darunter Thomas Mann, Amos Oz, Elfriede Jelinek, Bücher über jüdische Geschichte und aktuelle Debatten, aber auch leichtere ungarische Romane.

»Das Judentum ist für mich eine wichtige Religion geworden«, sagt sie, eine, die sie lieb gewonnen habe. »Ich habe etwas vom Judentum gelernt – es ist eine Religion, in der es kein ›Credo‹ gibt: Es ist nicht obligatorisch, an etwas zu glauben. Wenn man nicht alle Gesetze einhält, ist man noch immer ein guter Jude.« Denn, so erzählt Ágnes Heller: »Es ist eine hermeneutische Religion: Es gibt heilige Texte. Ein wenig wie in der Philosophie, wo Aristoteles, Platon und Kant in einer Weise heilige Texte sind. Aber wir alle können sie interpretieren, wie sie sind. Ich glaube, dass das Judentum unter den Religionen sehr nah an der Philosophie ist.«

ethik Ágnes Heller blickt auf, wieder signiert sie ein Buch. Immer geduldig, aufmerksam und hellwach. Ágnes Heller hat für sich eine große Bescheidenheit bewahrt. Sie redet mit jedem, egal ob Verleger oder Leser. »Alle Menschen sind mindestens einmal interessant, ob sie zweimal interessant sind, ist eine Frage, aber wenn man mit einigen befreundet ist, sind sie wahrscheinlich immer interessant, weil wir an ihnen interessiert sind«, sagt sie lächelnd.

Jeder noch so kleine Dialog wird zum Philosophieren – sie tauscht kluge Gedanken und Lebensweisheiten aus und kontert manchmal auch mit Klartext, wenn Small Talk erwartet wird. Komplizierte Fragen beantwortet sie keineswegs mit medial geschmeidigen Formeln. »Ich habe lange nachgedacht, worauf man eine moderne Ethik aufbauen kann. Da habe ich Kant recht gegeben: Auf Tugenden kann man sie nicht aufbauen.« Denn die Interpretationen der Tugenden würden sich mit der Zeit verändern. Was gestern eine Tugend war, sei heute ein Laster geworden.

»Wer mit der Feder lügt, ist kein Schriftsteller oder Philosoph.»Ágnes Heller

Ebensowenig könne man Ethik auf Zielen gründen. Denn was für den einen Menschen gut sei, sei für den anderen das Gegenteil. »Einer mag es, wenn keine Migranten nach Ungarn kommen, für den nächsten ist es gut, wenn alle Menschen religiös sind, für den übernächsten, wenn es nur heterosexuelle Ehen gibt. Was also ist gut?«, fragt Ágnes Heller. Sie schaut mit großen Augen und nimmt den Ball zurück. »Vielleicht ist nicht immer gut, was wir für wahr halten, aber wir müssen immer aussagen, was wir für wahr halten, und sollten mindestens uns selbst nicht belügen.« Philosophie sei die Suche nach der Wahrhaftigkeit, fügt sie hinzu. »Wer mit der Feder lügt, ist kein Schriftsteller oder Philosoph.«

politik Ágnes Heller gibt auch auf dieser Buchmesse einige Interviews. Wie denkt sie über die Gegenwart? Über Politik in Ungarn? Seit Jahren kritisiert sie den Politikstil von Premierminister Viktor Orbán. Dieser »vergifte« die Seele des Volkes »mit Hass und Furcht«. Sie bezeichnet ihn als Diktator, betont aber: »Ungarn ist keine Diktatur.«

Auch mit 90 Jahren nimmt sie kein Blatt vor den Mund, steckt Kritik und persönliche Anfeindungen ein und betont, um sich selbst sei sie weniger besorgt, »aber um Ungarn«. Am Verlagsstand wird derzeit auch ein Buch über Tivadar Soros vorgestellt, den Vater von George Soros. Die mediale Öffentlichkeit und auch Händler würden sich auffallend zurückhalten, beklagt der Verleger János Köbányai. »Keine Rezension, nichts.« Dabei verkaufe sich das Buch am Stand wie warme Semmeln. Was ist los im Land?

Auch im hohen Alter ist »Ági« ein unbequemer Freigeist, eine überzeugte Europäerin und die letzte Grande Dame der Philosophie.

»Ich denke, es gibt einfach zu viele Kampffelder im Moment«, überlegt Ágnes Heller. Nie ist die Philosophin um eine Antwort verlegen. Sie lebt als unbequemer, kantiger Frei- und Feingeist unserer Zeit. Denn »Ági«, wie sie genannt wird, ist nicht nur die letzte Grande Dame der Philosophie ihrer Generation, sie ist auch überzeugte Europäerin.

»Ich habe im Leben nichts bereut«, sagt sie. Natürlich habe sie auch schlechte Entscheidungen getroffen, diese dann aber auch geändert. »Man kann immer Dinge zum Besseren wenden, auch wenn man einen Fehler gemacht hat.« Ihr Gemüt sei immer liberal gewesen, ergänzt sie. Und so halte sie es auch mit Freunden. Wer heute in ihrem Freundeskreis Jude sei oder nicht, könne sie gar nicht sagen. Nur eines, das seien alle: liberal.

EUROPA Über ihr neues Buch spricht sie auch. Vor Kurzem hat sie angefangen, es zu schreiben. Es soll ein Buch über Tragödie und Philosophie werden. »Es ist eine parallele Geschichte, eine europäische Geschichte – die einzige europäische Geschichte, denn Philosophie und Tragödie wurden in Europa erfunden, in Athen.« Es scheint, als ginge ihr der Stoff zum Denken und Schreiben niemals aus. Die Ideen fließen, immer wieder neu befeuert durch die Frage nach der Wahrheit. Vor Jahren sagte sie einmal: »Ich will nichts Altes denken, lieber etwas Neues.«

Im autobiografischen Werk Der Affe auf dem Fahrrad: Eine Lebensgeschichte setzt sie sich mit Auschwitz und dem stalinistischen Gulag-System auseinander. »Ich bin meinen Toten Rechenschaft schuldig«, kommentierte sie in einem Interview knapp. Und eines habe sie doch nicht gemeinsam mit Hannah Arendt: »Das Böse ist nie banal.«

Was einst von ihr bleiben wird, mag die Nachwelt entscheiden, sagt sie mit einem zögerlichen Lächeln. »Ich habe keine großen Erwartungen. Wir sind die Letzten, die noch Philosophie betreiben. Heutzutage sehe ich keinen, der dazu fähig wäre. Alle leben von Informationen, von Fußnoten.« Doch Fußnoten seien philosophisch verdächtig. »Wenn ich mehr als eine einzige Fußnote auf einer Seite sehe, werde ich das Buch sicher nicht lesen. Denn ich glaube keiner Information – ich glaube Gedanken.« Zumindest in der Philosophie.

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