Frankreich

Liberté, Egalité, Brutalité

Schweigemarsch für die Opfer des Terroranschlags von Toulouse (Paris, März 2012) Foto: Reuters

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Liberté, Egalité, Brutalité

Der Antisemitismus nimmt zu und wird gewalttätiger

von Nina Schönmeier  16.10.2012 12:26 Uhr

Paris, 16. September: Ein 52-jähriger Mann wird in der Metro zusammengeschlagen, weil er ein jüdisches Buch liest. 19. September, Sarcelles: Bei einem Anschlag mit einer Granate auf einen jüdischen Lebensmittelladen in der Pariser Banlieue wird eine Frau leicht verletzt. Im Laufe der Ermittlungen nimmt die Polizei sieben Mitglieder einer als sehr gefährlich eingestuften islamistischen Terrorzelle fest. 5. Oktober, Region Seine Saint-Denis: Unbekannte Täter werfen Steine auf eine Familie, die in ihrer Sukka den Schabbat begeht, eine Frau wird leicht verletzt. 6. Oktober, Argenteuil: Schüsse in der Nähe der Synagoge.

»Jeden Tag gibt es Gewaltakte«, sagt Maurice Abitbol, Präsident der jüdischen Gemeinde im südfranzösischen Béziers und Mitglied des Konsistoriums in Paris. Der Sicherheitsservice der jüdischen Gemeinde Frankreichs, SPCJ (Service de Protection de la Communauté Juive), hat einen erschreckenden Jahresbericht veröffentlicht. Demnach sei die Zahl antisemitischer Vorfälle in Frankreich von Januar bis August 2012 im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 45 Prozent gestiegen. Insgesamt hat die Organisation in diesem Jahr rund 386 solcher Taten erfasst, während es im vergangenen Jahr nur 266 waren.

morde 2012 hat der SPCJ fünf Morde gezählt. Der islamistische Terrorist Mohamed Merah verübte sie im März bei dem Anschlag auf die jüdische Gesamtschule Or Torah in Toulouse. Unter den Opfern waren auch drei Schüler der Grundschule Gan Rachi. Ihr Direktor Yossef Matussof sagt, dass Lehrer oder Schüler täglich Opfer von Beleidigungen sind. Die Zahl der Einschreibungen für die neue erste Klasse sei allerdings nicht gesunken.

Der SPCJ verzeichnet zudem 56 Gewaltakte und 39 Fälle von Vandalismus. Die Taten werden nicht nur zahlreicher, sondern auch brutaler. »Natürlich fühlen sich unsere Gemeindemitglieder bedroht«, erklärt Richard Wertenschlag, der Oberrabbiner von Lyon. Er selbst habe kürzlich Drohbriefe erhalten, in denen stand: »Jedes Mal, wenn du im Fernsehen auftrittst, werden wir einen Juden bestrafen.« Wertenschlag hat Anzeige erstattet. Leicht ironisch fügt er hinzu, dass man »ja gleich seine Koffer packen« könne, wenn in Frankreich kein normales Leben mehr möglich sei.

alija
Maurice Abitbol hat beobachtet, dass der wachsende Antisemitismus in Frankreich tatsächlich viele junge Menschen zur Alija bewegt. »Wir Älteren sehen das mit etwas mehr Distanz und wissen, dass nicht die gesamte französische Gesellschaft so ist.« Es sind vor allem fanatische Einzeltäter am Werk. Jedoch wird man den Eindruck nicht los, dass sich in manchen Schichten der französischen Gesellschaft der Hass auf Juden breitmacht. Für den Staat wird es sehr schwierig sein, diese Entwicklung aufzuhalten, wie Frankreichs Innenminister Manuel Valls auch öffentlich zugab.

Rabbiner Wertenschlag weist darauf hin, dass es in Frankreich »zwei Arten von Antisemitismus« gibt, den bürgerlichen, verkörpert durch die rechtsextreme Front National, sowie »eine neue Form des Terrorismus«. Die Täter seien meist »junge muslimische Männer mit islamistischen oder salafistischen Tendenzen, die oft in Frankreich aufgewachsen sind und hier öffentliche Schulen besucht haben«. Sie sind das, was Zeitungen die »Generation Merah« nennen.

vororte »Der Terrorismus speist sich aus den Hochhäusern der Vororte, deren Bewohner unter der Krise und den sozialen Missständen am meisten leiden«, analysiert die Zeitung La Dépêche du Midi aus Toulouse in einem Artikel vom 8. Oktober. Vor diesem explosiven Hintergrund gedeihe »die Saat des Hasses, der Rachegelüste und des Antisemitismus am besten«.

Ähnliche Profile scheinen auch die Mitglieder der jüngst enttarnten islamistischen Terrorzelle aufzuweisen. Sie alle sind junge Franzosen, die erst spät zum Islam übergetreten sind. Wie sein Vater in einem Interview erklärte, vollzog sich die Radikalisierung seines Sohnes Yann Nsaku, eines früheren Fußballtalents, schleichend. Die Eltern merkten fast nichts davon. »Eines Tages hat er sich einen Bart wachsen lassen und bestellte im Internet eine Djellaba«, erzählt der Vater. Doch der Junge sei immer »nett« gewesen, »respektvoll und hat sich nie geprügelt«.

schutz Nach den Festnahmen erklärte Frankreichs Präsident François Hollande, dass seine Regierung entschlossen sei, gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen. Die Regierung kündigte an, die Schutzmaßnahmen für jüdische Einrichtungen zu verbessern. Polizisten sollen häufiger Streife fahren und die Nachbarschaft beobachten. »Natürlich kann man nicht hinter jeden Juden einen Polizisten stellen, und die Synagogen sollen auch nicht zu Festungen werden, sondern weiterhin jedem offen stehen«, sagt Rabbiner Wertenschlag.

Wie der französische Staat in Zeiten des Sparzwangs die nötigen Mittel aufbringen will, ist unklar. Die städtischen Polizisten, die zum Teil an den Sicherungsmaßnahmen beteiligt sind, ließen verlauten, dass sie nicht gut genug ausgestattet seien, um derart riskante Einsätze durchzuführen. Doch Wertenschlag, Abitbol und Matussof loben die Entschlossenheit, mit der die Regierung Hollande gegen den Antisemitismus vorgeht.

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