USA

Lasst Eileen leben

Aus Sicht vieler Ultraorthodoxer ist das Beenden lebenserhaltender Maßnahmen Mord. Foto: imago

Der Mensch darf nicht Gott spielen. Dieser Grundsatz ist im Judentum so fest verankert, dass im Prinzip jede Art von Sterbehilfe, aktiv oder passiv, verboten ist. Viele (vor allem ultra-)orthodoxe Juden glauben, dass die Seele eines Menschen lebt, solange sein Herz schlägt. Aus dieser Sicht ist das Beenden lebenserhaltender Maßnahmen gleichzusetzen mit Mord.

Mit dieser Überzeugung wollte die Hebrew Academy for Special Children (HASC) in Brooklyn mit gerichtlicher Hilfe den Bruder einer der Bewohnerinnen ihres Wohnheims, Eileen Beth Kramer, am Abschalten der Beatmungsgeräte seiner unheilbar erkrankten Schwester hindern. Die 60-jährige, an Entwicklungsstörungen leidende Eileen Kramer lebte 40 Jahre lang in dem Wohnheim, bevor sie lebensbedrohlich erkrankte und ins Maimonides Medical Center in Brooklyn eingewiesen wurde.

Ihr Bruder und gesetzlicher Betreuer, Howard Kramer, wollte in Übereinstimmung mit den behandelnden Ärzten die lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen, nahm davon aber Abstand, nachdem ihn HASC-nahe Personen angewiesen hatten, »seine Schwester so lange wie möglich am Leben zu erhalten, da jeder Moment kostbar sei«.

Kompromiss Aus Dankbarkeit gegenüber der Einrichtung, die so lange für seine Schwester gesorgt hatte, erklärte sich Kramer zu dem Kompromiss bereit, die künstliche Beatmung fortzusetzen, aber weitere aktiv lebensverlängernde Maßnahmen einzustellen. Doch das war Samuel Kahn, dem Direktor der HASC, nicht genug. Er zog vor Gericht und beschuldigte Howard Kramer, »seine Schwester vernachlässigt zu haben und ihre Wünsche nicht zu verstehen«.

Für Kramer war die Klage ein Schock. In einem Interview mit der jüdischen Wochenzeitung Forward gab er an, dass Eileen und er in einem Reformhaushalt erzogen worden seien, und dass seine Schwester das Konzept von Religion und Orthodoxie wegen ihrer starken kognitiven Einschränkungen überhaupt nicht verstehen könne.

Grundsätze Die Haltung der HASC spiegelt die Grundsätze der Chayim Aruchim wider, des sogenannten Center for Culturally Sensitive Health Advocacy and Counseling (übersetzt etwa »Zentrum für die Beratung und Fürsprache in kulturell sensiblen Gesundheitsfragen«), das 2010 von der ultraorthodoxen Organisation Agudath Israel of America (auch Agudah oder AIA) in den USA ins Leben gerufen wurde. Chayim Aruchim plädiert dafür, nicht Ärzten, sondern Rabbinern die Entscheidung über Leben und Tod zu überlassen. Und in der Tat beziehen Ärzte die Organisation oft in die Behandlung orthodoxer Patienten ein. Auch Richtlinien und Gesetze zur Palliativpflege sind auf ihre Initiative schon geändert worden. »Die Agudah ist ein Gorilla, der sich hinsetzt, wo er will«, beschreibt die New Yorker Ethikberaterin Nancy Dubler den starken Einfluss der Organisation.

Besonders seit der Schoa halten orthodoxe wie progressive Juden an dem Glauben an die Heiligkeit des Lebens und der Überzeugung fest, dass die Beendigung eines Lebens allein Gottes Recht ist. Die Halacha enthält aber auch den Grundsatz, das Leiden eines Sterbenden zu mindern. Möglicherweise hatten die Richter dies im Blick, als sie am 29. Oktober zugunsten von Howard Kramer entschieden.

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

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