Grossbritannien

Koscher im Michelin

Hinter einem Gittertor steht fast unscheinbar zwischen den riesigen Gebäuden der City of London und dem ehemaligen jüdischen East End die älteste Synagoge Englands: Bevis Marks. Sie wurde 1701 von der damaligen portugiesisch-jüdischen Gemeinde gebaut.

Der gepflasterte Vorplatz mit zwei alten schwarzen Straßenlaternen versetzt den Besucher in vergangene Jahrhunderte. Dahinter versteckt befindet sich mit dunkel getönten Scheiben der Eingang eines neuen Restaurants. Es heißt »1701«, nach dem Eröffnungsjahr der Synagoge. Seit es im vergangenen Sommer aufmachte, sorgt es für Furore: Es ist nach vielen Jahren das erste koschere Restaurant im Osten Londons – und schaffte es sofort in den Michelin-Führer.

Wer das Nobellokal betritt, merkt, dass es sich um einen Anbau handelt, dessen eine Innenwand eine Außenmauer der Synagoge ist. Durch die großen alten Fenster schimmern die Umrisse des Kronleuchters im erhabenen Bethaus, und man kann sogar den Schatten der Bima erkennen, von der man bei Gottesdiensten aus der Tora liest.

GEschäftsessen Zur Mittagszeit sitzen hier bereits ein Dutzend Gäste, viele von ihnen arbeiten in der Londoner City. Manche scheinen das Restaurant für ein Geschäftsessen ausgewählt zu haben. Unter den Gästen ist an diesem Tag auch der 80-jährige Simon Palmer. Er wuchs nicht weit von hier in der Bell Lane auf und möchte das »1701« gern einmal ausprobieren, zum Teil aus Neugierde, zum Teil aus Nostalgie. »Damals lebte eine Viertelmillion Juden hier im Londoner East End«, erzählt er mit einem leichten, aber unschwer zu erkennenden Ostlondoner Cockney-Akzent. Simon Palmers letzte Mahlzeit in dieser Gegend liegt viele Jahre zurück.

»Um die Ecke gab es ein Restaurant namens ›Blooms‹«, erzählt der frühere Geschäftsmann. »Das Essen dort war hervorragend, aber die Kellner waren unverschämt. Sie waren alle selbstständig und versuchten, jeden Tisch zu jeder Mahlzeit gleich dreimal zu besetzen. Also zogen sie den Gästen sofort nach den letzten Bissen einfach die Teller weg.«

Solche Probleme gibt es im schicken »1701« nicht. Die schwarz gekleideten Kellner schweben wie auf Federn. Simon Palmer studiert die Karte, die man gut und gerne auch eine Enzyklopädie der jüdischen Küche nennen könnte. Jüdische Gerichte aus aller Herren Länder werden darin erklärt, und man staune: Das britische Nationalgericht Fish and Chips – frittierter Fisch mit Pommes frites – wird als Erfindung des Londoner Juden Joseph Malin erwähnt, der es im Jahre 1860 erstmals zubereitete. Allerdings steht das nicht zur Auswahl auf der Speisekarte.

Stattdessen können Feinschmecker zwischen gehackter Leber, Gefilte Fisch, marokkanischem Möhrensalat, Borschtsch, Pastrami, Sabich und, wie man liest, »Jüdischem Penicillin« als Vorspeise wählen. »Die meinen Hühnersuppe«, sagt Palmer und fängt an, von seiner einst aus Warschau ausgewanderten jiddisch sprechenden Mutter und ihrer legendären Hühnersuppe zu erzählen. Am Ende bestellt er Borschtsch.

In der Mitte des Tellers thront auf der roten Suppe ein Häubchen Meerrettichschaum, ein kunstvolles Arrangement des israelischen Chefkochs Oren Goldfeld. »Köstlich«, urteilt Palmer – »wenn auch nicht wie einst bei Mamme.«

Sabich Ein paar Gäste am Nachbartisch laben sich an Sabich, einer jüdisch-irakischen Schabbatspeise aus Auberginen, Kartoffeln und Eiern. Dazu gibt es Miso. Das Rezept für die japanische Suppe dürfte Goldfeld von seinem vorherigen Arbeitsplatz mitgebracht haben, dem Nobelrestaurant von Yotam Ottolenghi, einem ebenfalls israelischen Meisterchef und Absolventen der französischen Kochschule Le Cordon Bleu, der sich mit seinen Bistros und Restaurants in Großbritannien einen Namen gemacht hat. Allen Gästen wird zu ihrer Vorspeise dünnes, dreieckiges, leicht gelbliches Pitabrot mit Olivenöl angeboten.

Während er auf sein Hauptgericht wartet, erzählt Palmer vom Leben, das sich einst hier in den Straßen um die Synagoge herum abspielte: Hunderte von kleinen Nähstuben und Textilläden gab es in der Nachbarschaft, auch seine Mutter arbeitete dort. Die Gegend war »voller Stiberl«, in denen auch Palmer seine religiöse Erziehung erhielt. »Hier gab es eine Suppenküche – einen Ort, an dem die jüdischen Armen etwas zu essen bekamen. An Pessach war dort immer besonders viel los.« Die meisten, die hier lebten, seien einfache jüdische Arbeiter und Geschäftsleute gewesen, erzählt Palmer – »ganz anders als die Leute, die heute hier im Restaurant sitzen«.

Couscous Im »1701« sollen nicht nur der Gaumen, sondern auch die Augen auf ihre Kosten kommen. So befindet sich unter den Hauptspeisen beispielsweise ein Couscousgericht, dessen Bedeckung mit Kohl wie eine Wiese aussieht, aus der rote Zwiebelblumen wachsen. Die daneben liegenden kleinen lilafarbenen Kartoffeln könnte man für Schnecken halten.

Wer die nordafrikanische oder lateinamerikanische Küche liebt, mag enttäuscht sein im »1701«, denn weder Öl noch Knoblauch, Pfeffer oder andere scharfe Gewürze dominieren. Derartige Geschmacksrisiken geht man hier nicht ein.

Apfelschalotten
Simon Palmer weiß nicht genau, was er sagen soll. Er sitzt vor einem Teller voll Kreplach. Sie schmecken gut, aber er vermisst das zarte Fleisch, das darin stecken sollte. Stattdessen muss er sich mit Artischocken als Füllung zufriedengeben. Als Dessert kann man wählen zwischen Sachertorte, Fruchtsuppe und Apfelschalotten, alles vom Feinsten und in kleinen Portionen.

Zum Schluss bestellt sich Simon Palmer einen Kaffee. Er nimmt langsame Schlucke und blickt sich noch einmal ganz in Ruhe um: Er kann sich gut vorstellen, wiederzukommen. Zwar sei es eine kleine Reise für ihn, denn er wohnt im Norden Londons, aber dieses »1701« sei ein idealer Ort, um sich mit alten Freunden zu treffen, sagt er. »Es hat zwar nicht viel mit meinem East End zu tun, denn es ist modern und neu – aber ich mag es.«

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