Tagung

Im Schatten der Erinnerung

So viele orthodoxe Rabbiner sind lange nicht mehr gleichzeitig in Berlin gewesen: Rund 200 aus ganz Europa sowie Israels neue Oberrabbiner David Lau und Yitzhak Yosef kamen von Sonntag bis Dienstag in der deutschen Hauptstadt zusammen. Dass die Europäische Rabbinerkonferenz (CER) Berlin als Tagungsort für ihre Vollversammlung gewählt hatte, lag am 75. Jahrestag der Pogromnacht. Der Besuch sei »ein Vertrauensbeweis in eine jüdische Zukunft in Deutschland«, sagte CER-Präsident Pinchas Goldschmidt, der Oberrabbiner von Moskau.

Diskutieren Drei Tage lang beschäftigten sich die Rabbiner in einem Hotel im Norden der Stadt mit drängenden Fragen: Man diskutierte über den Aufbau lebendiger jüdischer Gemeinden, über die Beschränkung religiöser Freiheiten und über das Thema Agunot (Frauen, die nach der Trennung noch nicht halachisch geschieden sind).

Eines der Hauptthemen der Versammlung war die Beschneidung. Der Wiener Rabbiner Schlomo Hofmeister stellte seinen Kollegen die im Sommer gegründete Union europäischer Beschneider (Union of Mohalim in Europe, UME) vor. Sie wolle europaweit Qualitätsstandards setzen und Mohalim über die Regeln des jeweiligen Landes informieren, sagte er. Josef Schuster, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und »im wirklichen Leben Arzt«, wie er formulierte, lobte das 2012 vom Bundestag beschlossene Gesetz.

Doch trotz der gesetzlichen Regelung lassen die Beschneidungsgegner nicht locker. Sechs Wochen ist es her, da stimmte die parlamentarische Versammlung des Europarats mit großer Mehrheit für einen Resolutionsentwurf gegen die Beschneidung. »Das Recht auf freie Religionsausübung ist nicht mehr heilig«, kritisierte Philip Carmel, CER-Direktor für internationale Beziehungen, das Vorgehen.

Am Montagabend gab es dann jedoch Entwarnung von höchstoffizieller Seite: Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, erklärte beim Gala-Dinner der Rabbinerkonferenz im Jüdischen Museum, dass kein europäisches Land die rituelle Beschneidung verbieten werde. Er sagte den rund 200 Rabbinern: »Ich will Ihnen gegenüber unmissverständlich klarstellen: Der Europarat möchte keineswegs die Praxis der männlichen Beschneidung verbieten. Weibliche Genitalverstümmelung verletzt Menschenrechte – männliche Beschneidung tut dies nicht. Das ist meine Position. Das ist die Position des Europarates.«

Zentralratsvizepräsident Schuster dankte Jagland für die Unterstützung. Er sagte, es sei gut, Freunde zu haben. Oberrabbiner Goldschmidt wertete Jaglands Erklärung als »äußerst wichtig«, sie sei ein starkes Signal an die jüdischen Gemeinden Europas, dass die Brit Mila, »dieser Grundpfeiler unseres Glaubens, nicht zum Gegenstand einer zunehmend aggressiven säkularen Lobby wird«.

Das Gala-Dinner stand unter dem Motto: »Gibt es eine Zukunft für jüdisches Leben in Europa?« Jagland ging ausdrücklich darauf ein: »Meine persönliche Antwort ist ein eindeutiges ›Ja‹«, sagte er. Doch sei es nicht genug, »eine Zukunft für Juden in Europa sicherzustellen – wir müssen auch eine Zukunft für jüdisches Leben sicherstellen«.

erinnern Verbunden mit dem Blick nach vorn war für die Rabbiner auch der Blick zurück. Gemeinsam mit dem Zentralrat gedachten sie am Sonntagnachmittag in der Berliner Brunnenstraße der Opfer der Pogromnacht von 1938. Dort befindet sich das Rabbinerseminar zu Berlin. Es war in der NS-Zeit geschlossen worden und wurde erst vor zehn Jahren wiedereröffnet. An dem Gedenken in der Beth Zion Synagoge nahmen neben Zentralratspräsident Dieter Graumann und Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich auch der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Ronald S. Lauder, teil.

Am Dienstagnachmittag ging die Vollversammlung mit einer Pressekonferenz zu Ende. Es gebe konkrete Ergebnisse, sagte CER-Vizepräsident Yaakov Bleich, Oberrabbiner von Kiew und der Ukraine. Die nächste Vollversammlung soll auf Einladung von Thorbjørn Jagland am Sitz des Europarats in Straßburg stattfinden. Die Rabbiner nahmen das Angebot an.

Mitarbeit: André Anchuelo, Gerald Beyrodt und David Kauschke

Meinung

Antisemitismus der Anständigen

Judenhass in der Schweiz ist brandgefährlich, weil er so höflich und diskret daherkommt

von Zsolt Balkanyi-Guery  27.10.2025

Meinung

Die SP im moralischen Blindflug

Mit zwei widersprüchlichen Resolutionen beweist die Sozialdemokratische Partei der Schweiz einmal mehr ihre ethische Orientierungslosigkeit

von Nicole Dreyfus  27.10.2025

USA

Der reichste Mann der Welt – für einen Tag

Larry Ellison gehört zu den Großen des Silicon Valley und hält Künstliche Intelligenz für die wichtigste Erfindung der Menschheit

von Sara Pines  26.10.2025

Nachruf

Letzter Kämpfer des Aufstands des Warschauer Ghettos gestorben

Michael Smuss wurde 99 Jahre alt

 24.10.2025

Wien

Nobelpreisträger warnt vor technischer Abhängigkeit von den USA

Joseph E. Stiglitz kritisiert Präsident Trump und ruft Wissenschaft und Medien zur Verteidigung der Medienfreiheit weltweit auf

von Steffen Grimberg  24.10.2025

Polen

Antisemitische Hetzer verhindern Konzert jüdischer Musiker

Der Chor der Pestalozzi-Synagoge in Berlin war eingeladen, in Września gemeinsam mit dem dortigen Kinderchor den Komponisten Louis Lewandowski zu ehren. Nach Hetze und Drohungen wurden alle Veranstaltungen abgesagt

von Sophie Albers Ben Chamo  23.10.2025

Großbritannien

Jiddisch verbindet

Zwischen Identitätssuche, Grammatik und Klezfest. Unsere Autorin war beim Sprachkurs »Ot Azoy« in London

von Sabine Schereck  23.10.2025

Rabbiner Noam Hertig aus Zürich

Diaspora

Es geht nur zusammen

Wie wir den inneren Frieden der jüdischen Gemeinschaft bewahren können – über alle Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten hinweg

von Rabbiner Noam Hertig  23.10.2025

Großbritannien

Ärztin wegen antisemitischer Agitation festgenommen

Dr. Rahmeh Aladwan wurde vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen, weil sie die Hamas-Verbrechen vom 7. Oktober verherrlicht hatte. Nun muss der General Medical Council über ihre Approbation entscheiden

von Michael Thaidigsmann  22.10.2025