Porträt

Historiker Ian Kershaw wird 80

Der englische Historiker und Hitler-Biograf Ian Kershaw Foto: picture alliance/dpa

Er ist ein gefragter Interviewpartner in Zeiten des Kriegs in der Ukraine. Der britische Historiker Sir Ian Kershaw kennt sich aus mit den Katastrophen Europas im 20. Jahrhundert. In seinem jüngsten Buch »Der Mensch und die Macht« hat er analysiert, wie weit die machtvollen Figuren des 20. Jahrhunderts von Lenin bis Hitler und von Kohl bis Gorbatschow Geschichte bewegt haben oder von historischen Strukturen getrieben wurden.

Morgen, am 29. April, wird der Historiker, den Queen Elizabeth 2002 zum Ritter schlug und der als einer der besten Kenner Hitlers und des Nationalsozialismus gilt, 80 Jahre alt.

Ursprünglich studierte und lehrte Kershaw in Liverpool, Oxford und Manchester mittelalterliche Geschichte. Doch dann faszinierten ihn die deutsche Sprache, Kultur und Geschichte so sehr, dass er umsattelte.

Meisterhafter Erzähler Der 1943 in Oldham geborene Historiker gilt als meisterhafter Erzähler und akribischer Arbeiter. Kershaw spricht fließend Deutsch; das lernte er nebenbei am Goethe-Institut von Manchester. 1983/84 hatte er eine Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum. 1987 nahm er eine Professur für moderne Geschichte an der Universität Nottingham an. Zwei Jahre später wechselte er an die Uni Sheffield, an der er bis zu seiner Emeritierung 2008 lehrte. 2018 wurde er in Aachen mit der Karlsmedaille für europäische Medien ausgezeichnet.

Wie konnten die Deutschen einem rassistischen Tunichtgut und Postkartenmaler verfallen? Wie konnte der Holocaust in diesem kultivierten Land geschehen, und warum hielten die Deutschen im Zweiten Weltkrieg so lange durch? Das waren die Fragen, die Kershaw bewegten.

Sein erstes Buch über deutsche Geschichte befasste sich 1980 mit »Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich«. In »Der NS-Staat« gab er 1988 einen Überblick über Strukturen der NS-Gesellschaft und Kontroversen. Auch mit dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Kriegsgesellschaft setzte er sich auseinander, etwa in den Büchern »Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg« (2008) und »Kampf bis in den Untergang« (2011). Seine zweibändige Hitler-Biografie, erschienen 1998 und 2000, wird als Standardwerk gerühmt.

Vorauseilender Gehorsam Im Streit über die Bedeutung Adolf Hitlers gibt Kershaw beiden Interpretationsschulen ein wenig Recht. Sehen die »Intentionalisten« im Diktator Hitler den entscheidenden Motor der NS-Verbrechen, so begründen die »Funktionalisten« die wachsende Radikalisierung damit, dass die unteren Ebenen versuchten, in einem Wettlauf den »Führerwillen« im vorauseilenden Gehorsam zu erfüllen.

Kershaws salomonisches Ergebnis: Einerseits betrachtet er Hitler als Ausnahmeerscheinung. Ohne ihn kein SS-Staat, kein Weltkrieg und kein Holocaust. Andererseits sei Hitler aber nur Ausdruck gesellschaftlicher Kräfte gewesen, weil die Deutschen ihren Wunsch nach einem starken Führer auf seine Person übertragen hätten.

Doch die Perspektiven des Historikers gehen über den Nationalsozialismus hinaus. In seinem fulminanten Buch »Höllensturz« - laut Kershaw sein schwierigstes Werk - beschreibt er die Entwicklung Europas vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zum beginnenden Kalten Krieg Ende der 40er Jahre. Als wesentliche Triebkräfte sieht er die explosionsartige Ausbreitung des rassistischen Nationalismus, Gebietsstreitigkeiten zwischen den Nationalstaaten und die lange andauernde Krise des Kapitalismus.

Teure Entscheidung Als einen Wendepunkt der Geschichte beurteilt Kershaw den Angriffskrieg Putins auf die Ukraine. »Der Versuch, Russland in die Familie der Nationen zu integrieren, ist auf lange Sicht beendet«, sagt er. »In dem Sinne war die Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, eine teure Entscheidung.«

Der Historiker sieht Putin als stark rückwärtsgewandten Ideologen. »Er orientiert sich an Peter dem Großen und Katharina der Großen, nicht an Lenin und Stalin.« Der Kreml-Herrscher inszeniere Russland als Großmacht, die westliche Einmischungen in ihre Einflusssphäre blockieren will. Russland nach dem Untergang der Sowjetunion sei eine gedemütigte Großmacht - eine sehr gefährliche Sache. »Auch im Deutschland der 1920er-Jahre herrschte das Gefühl einer nationalen Demütigung, was Hitlers Aufstieg begünstigte.«

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Spanien

Francos Erbe

Das Land, das den Sefardim einst ihren Namen gab, verlangt seinen Juden heute einiges ab

von Valentin Suckut  03.11.2025

»Nobody Wants This«

Alle wollen Esther

Einer der Gründe, die Netflix-Serie zu sehen, ist Jackie Tohn. Die Schauspielerin mit dem Blick, der Stahl schmelzen kann, tanzt gern auf vielen Hochzeiten

von Sarah Thalia Pines  03.11.2025

Slowakei

Neues Leuchten in Trenčín

Eine restaurierte Synagoge wird zum Herzstück der Kulturhauptstadt 2026 – und zum Zeichen jüdischer Erneuerung

von Kilian Kirchgeßner  03.11.2025

Amsterdam

Wegen IDF-Kantor: Concertgebouw sagt Chanukka-Konzert ab

Die renommierte Musikhalle hat wegen des geplanten Auftritts von IDF-Chefkantor Shai Abramson das alljährliche Konzert abgesagt. Die jüdische Gemeinschaft ist empört und will gegen den Entscheid klagen

von Michael Thaidigsmann  03.11.2025

USA

Unsicher in New York

Zohran Mamdani ist der mögliche nächste Bürgermeister der Metropole – und für viele Juden ein Problem

von Mark Feldon  30.10.2025

Judenhass

»Ich werde Selbstmordattentäter diese Nacht«: Mann plante Messerangriff auf Juden

Der arabischstämmige Mann wurde im letzten Moment von der Polizei festgenommen. Nun stand er vor Gericht

von Nicole Dreyfus  30.10.2025

Barcelona

Mordverdacht: Ermittlungen gegen Sohn von Mango-Gründer

Spanischen Medienberichten zufolge sind die Umstände des Todes des Modeunternehmers Isak Andic im Dezember 2024 noch nicht geklärt. Doch es gibt einen Verdacht

 30.10.2025

München

Europäische Rabbiner sagen Baku-Konferenz aus Sicherheitsgründen ab

Rund 600 Teilnehmer aus aller Welt sind angemeldet. Viel Geld war in die Vorbereitung geflossen

von Imanuel Marcus, Mascha Malburg  28.10.2025 Aktualisiert