USA

HeToo? Shlomo Carlebach und die Frauen

»Meine Schwestern, ich höre euch, ich weine mit euch, ich marschiere mit euch«: Tochter Neshama Carlebach in einem offenen Brief Foto: GettyImages

USA

HeToo? Shlomo Carlebach und die Frauen

Gemeinden im ganzen Land streiten über den Umgang mit dem Erbe des umstrittenen Rabbiners und Songwriters

von Katja Ridderbusch  08.01.2018 15:57 Uhr

Keine drei Monate ist es her, dass die MeToo-Bewegung mit den Missbrauchsvorwürfen gegen den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein begann. Mittlerweile hat sie in vielen Ländern fast alle Teile der Gesellschaft erreicht.

In jüdischen Gemeinden in den USA entzündet sich die Debatte in diesen Wochen vor allem an der Frage nach dem Umgang mit dem Erbe von Shlomo Carlebach, dem orthodoxen Rabbiner, der als Komponist und Sänger von religiösem Folkrock in den 60er- und 70er-Jahren zur Legende wurde. Bis heute gibt es kaum einen Gottesdienst – orthodox, konservativ oder Reform –, in dem Carlebachs einfach-eingängige Melodien nicht fester Bestandteil der Liturgie sind.

Joan Baez Doch der charismatische Rabbiner, der mit Bob Dylan und Joan Baez auftrat, soll zahlreiche Frauen sexuell belästigt haben, darunter auch Minderjährige. Die Vorwürfe sind nicht neu. Das Frauenmagazin »Lillith« veröffentlichte 1998, vier Jahre nach Carlebachs Tod, einen Artikel, in dem Frauen von sexuellen Übergriffen des Rabbiners berichten – von nächtlichen Anrufen über unfreiwillige Umarmungen und erzwungene Küsse bis zu aufdringlichem Gegrabsche.

»Die meisten Betroffenen waren jung und verwundbar«, sagte Rabbinerin Lynn Gottlieb, eine der damals Interviewten, jetzt der Zeitung »Forward«. »Das ist nicht nur unangemessen. Das ist kriminell.«

Die Frage, welche Konsequenzen Synagogen aus den Anschuldigungen ziehen sollten, spaltet derzeit viele jüdische Gemeinden in den USA. So stehen in der Synagoge von Rabbinerin Gottlieb in Albuquerque, New Mexico, Carlebach-Lieder de facto auf dem Index. Sie wolle ehemalige Opfer »nicht noch zusätzlich traumatisieren«, sagt sie. Auch andere Gemeinden, vor allem in Kalifornien, erwägen, Carlebach-Melodien nicht mehr zu spielen. Die Facebook-Gruppe »Anything but Carlebach« sammelt Vorschläge zur liturgischen Musik jenseits des Carlebach-Repertoires.

Auf der anderen Seite stehen Carlebachs treue Anhänger. Sie befürchten die Demontage ihrer Ikone und werfen all denen, die das Thema zur Sprache bringen, vor, einen Toten zu diffamieren, der sich nicht mehr verteidigen könne.

MeToo Die meisten Gemeinden wollen sich indes nicht positionieren, sondern ziehen es vor, Kunst und Künstler zu trennen. So ließ der Rabbiner der konservativen Kongregation Shearith Israel in Atlanta verlauten, er konzentriere sich auf den Gemeindealltag und wolle sich »nicht in die Debatte um die Vorwürfe gegen Shlomo Carlebach einschalten«.

Carlebachs Tochter Neshama, eine bekannte Sängerin religiöser Folksongs, hatte bislang zu den Vorwürfen gegen ihren Vater geschwiegen. Jetzt veröffentlichte sie einen Brief in der »Times of Israel«. »Meine Schwestern, ich höre euch, ich weine mit euch, ich marschiere mit euch«, schreibt die Musikerin an die Anhängerinnen der MeToo-Bewegung. Sie selbst sei als Neunjährige von einem Freund der Familie, ebenfalls einem Rabbiner, sexuell missbraucht worden.

Zugleich jedoch würdigt sie in dem Brief das ambivalente Erbe ihres Vaters. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie seine Musik Menschen spirituelle Heilung gebracht hat«, schreibt Neshama Carlebach. »Aber ich weiß auch, dass dieselbe Musik in anderen Menschen einen tiefen Schmerz wachruft.« Sie sei zornig auf ihren Vater, schreibt sie. »Aber seine Fehler definieren nicht die Gesamtheit des Menschen, der er war.«

Berlin
Carlebach, Jahrgang 1925, stammte aus einer einflussreichen deutsch-jüdischen Familie. Er wuchs in Berlin auf, wo sein Vater als Rabbiner in der Synagoge Passauer Straße wirkte. Später zog die Familie nach Baden bei Wien, wanderte nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 über Litauen in die USA aus. Später wurde er zu einer Kultfigur der Hippie- und Flower-Power-Kultur.

Carlebach war auch unter Orthodoxen umstritten. Er kämpfte – Ironie der Geschichte – für eine stärkere Rolle von Frauen im Leben der Gemeinden. Er ordinierte als Erster seiner Zunft eine orthodoxe Rabbinerin, seine Ehefrau lehrte an der Carlebach Shul in New York. Er nahm an der Gründungsveranstaltung der Frauenrechtsbewegung »Women of the Wall« teil, die sich dafür einsetzt, dass Frauen an der Jerusalemer Kotel beten dürfen.

Carlebach sei »kein Heiliger« gewesen, sagt Women-of-the-Wall-Gründerin Anat Hoffman im »Forward«. »Und, Gott sei Dank, kennt unsere Religion auch keine Heiligsprechung.« Allerdings habe das Judentum nie ein Problem damit gehabt, gebrochene, moralisch fragwürdige Menschen für ihre Leistungen zu feiern. König David zum Beispiel. Der habe wunderschöne Psalmen geschrieben, sagt Hoffman. Und zugleich war er, laut Überlieferung, ein unverbesserlicher Womanizer.

Luzern

Angriff auf Jeschiwa-Studenten in der Schweiz

Bereits im März war es zu Angriffen auf orthodoxe Juden im beschaulichen Luzern gekommen. Nun sind wieder Juden attackiert worden. Ob auch ein Messer gezeigt wurde, wird noch ermittelt

 20.07.2025

Großbritannien

Orthodox, lesbisch und unbeugsam

Wie Yehudis Fletcher der charedischen Autorität ihrer Gemeinde trotzt

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  20.07.2025

Schweiz

NGO verklagt Schweiz wegen Kauf israelischer Drohnen

Ein Kollektiv aus Genf will mit einer Klage erreichen, dass die Schweiz keine Drohnen aus Israel beschafft

 17.07.2025

London

Geheimbesuch vom Monarchen

Er kam, um ihr persönlich zum Geburtstag zu gratulieren, und blieb eine halbe Stunde: König Charles III. war bei Anita Lasker-Wallfisch zu Gast

von Michael Thaidigsmann  17.07.2025

Auszeit

Mit Schwimmkleid ins Wasser

Wie orthodoxe Frauen im Sommer am Zürichsee eine Auszeit vom Alltag nehmen

von Nicole Dreyfus  17.07.2025

Geburtstag

Einziger jüdischer NASA-Chef: Dan Goldin wird 85

Als er Administrator der Raumfahrtbehörde wurde, wollte er alles »schneller, besser und billiger« hinkriegen. Denn Geldfresser bremsten die NASA

von Imanuel Marcus  17.07.2025

Iran

Esthers Kinder

Wie die älteste Diaspora-Gemeinschaft 2700 Jahre überlebte – und heute erneut um ihre Existenz kämpft

von Stephen Tree  16.07.2025 Aktualisiert

Interreligiöser Dialog

»Das ist Verrat«

Ein Imam aus den Niederlanden nahm an einer Reise muslimischer Geistlicher nach Israel teil - prompt verlor er seinen Job

von Michael Thaidigsmann  15.07.2025

USA

Düsterer »Nice Jewish Boy«

Seinen ersten Kinofilm sah Ari Aster im Alter von vier Jahren und ist fast daran gestorben. Als junger Hollywood-Regisseur mischt er nun das Horror-Genre auf

von Sarah Thalia Pines  14.07.2025