USA

Halacha und Hakeleien

Der Gottesdienst war eigentlich vorbei, die meisten Männer falteten schon ihren Tallit zusammen – da trat Rabbi Weiss noch einmal ans Pult. Es war ein ganz gewöhnlicher Schabbat im »Bayit«, der großen Synagoge von Riverdale in New York, die das Kunststück fertigbringt, gleichzeitig liberal und orthodox zu sein.

Er habe der Gemeinde etwas Unerfreuliches zu berichten, sagte Rabbi Weiss, der immer noch seinen Gebetsschal trug. Es gebe einen Konflikt zwischen ihm und dem Oberrabbinat in Israel. Er habe einem Gemeindemitglied, das in Israel heiraten wollte, in einem Brief den jüdischen Status bescheinigt. Es sei nicht um einen Konvertiten gegangen, sondern um jemanden, der als Jude geboren wurde. Das Oberrabbinat in Israel habe sein Zeugnis abgelehnt. Dies sei nicht nur schmerzlich und beleidigend für ihn, es werfe tiefe Fragen über das Verhältnis von amerikanischen und israelischen Juden auf.

Einflüsterungen Er wisse nicht, sagte Rabbi Weiss, welchen Einflüsterungen das Oberrabbinat erlegen sei. Er wisse nicht, wer ihm abspreche, als orthodoxer Rabbiner glaubhaft zu sein. Er selbst sei in einem religiös-zionistischen Haushalt aufgewachsen, in dem das israelische Oberrabbinat »gleich nach Gott« kam. Aber, sagte Rabbi Weiss, er glaube, dass das Oberrabbinat zu mächtig geworden – und von seiner eigenen Machtfülle längst trunken geworden sei.

Rabbi Weiss (69) ist ein Rebell, der schon viele Kämpfe mit Autoritäten ausgefochten hat. Er gehört zu den Veteranen des Kampfes um die Befreiung der sowjetischen Juden, er hat Demonstrationen gegen den Antizionismus angeführt und Sitzblockaden in ehemaligen Konzentrations- und Todeslagern veranstaltet. Und er hat zum Entsetzen mancher seiner orthodoxen Amtskollegen Frauen ordiniert. Avi Weiss ist also kein konfliktscheuer Mensch. Dieser Konflikt aber, sagte er, sei für ihn schlimmer und härter als die vorangegangenen, denn es handelt sich um einen Konflikt innerhalb des eigenen Volkes.

Allerdings hat es in der Vergangenheit, wie Avi Weiss später zugab, schon öfter Fälle gegeben, in denen das Oberrabbinat seine Briefe zurückwies. In diesen Fällen hatte er immer nach einer diplomatischen Lösung, das heißt nach befreundeten israelischen Rabbinern gesucht, die dann mit ihren Zeugnissen für ihn einsprangen. Ihm sei aber klar geworden, dass er damit das Problem nicht löse, sondern eigentlich noch verschärfe. Darum habe er sich jetzt entschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Krise Avi Weiss wäre nicht Avi Weiss, wenn er die Krise nicht zum Anlass nehmen würde, in die Offensive zu gehen: Er fordert Israels Oberrabbiner auf, alle Strömungen des amerikanischen Judentums anzuerkennen – vom liberalsten Reformjudentum bis zum frömmsten Chassidismus.

Weiss ist klar, dass sich damit etwa ein Dutzend neue Probleme ergeben würden: Was ist mit Reformkonversionen, die kein orthodoxer Rabbiner je anerkennen wird (auch Weiss nicht), was ist mit Eheschließungen? Solche Probleme, sagte er, hätten sich auch in Riverdale schon ergeben. Er behaupte also nicht, dass mit einer Öffnung des Oberrabbinats das Paradies anbrechen werde. Aber ohne eine solche Öffnung gehe auf lange Sicht die Beziehung Israels zum amerikanischen Judentum kaputt.

Der Gemeindevorstand in Riverdale hat sich »schockiert« über die Entscheidung des Oberrabbinats gezeigt. In einem Brief an den sefardischen Oberrabbiner Yitzhak Yosef und dessen aschkenasischen Kollegen David Lau schreibt der Vorstand: »Während der 41 Jahre, die er in Riverdale als Rabbiner dient, hat Weiss uns durch sein Beispiel den Einsatz für die Halacha, die orthodoxe Praxis, die große Liebe zu Israel und allen Juden gelehrt. Er hat (...) Ba’alei Tschuwa inspiriert und gelehrt. Mit der Ermutigung und emotionalen Unterstützung von Rabbi Weiss haben mehr als 100 Familien, die der Synagoge angehörten, Alija gemacht, unter ihnen seine eigene Tochter. (...) Wir bitten Sie, uns die Namen jener zu nennen, die Rabbi Weiss’ Orthodoxie in Zweifel gezogen haben und betreffende Stellen im Schulchan Aruch zu nennen, die Ihre Behauptung stützen, dass Rabbi Weiss’ halachische Stellungnahmen ›Zweifel über den Grad seines Einsatzes für die (...) Halacha zulassen‹.«

Frauen Dieser Konflikt ist eigentlich nur in historischen Begriffen zu fassen. Weiss ist ein Vertreter der klassischen nationalreligiösen Richtung, nur lebt er zufällig in Amerika. Er ist geprägt von Abraham Isaak Kook, der es als seine Aufgabe sah, andere Richtungen zu umarmen, nicht auszuschließen, solange sie nur für den Aufbau des Landes Israel kämpften. Gerade mit Bezug auf die Rolle von Frauen zeichneten sich die Nationalreligiösen traditionell durch große Gelassenheit aus.

Das Oberrabbinat in Israel ist aber zunehmend nicht mehr nationalreligiös geprägt, sondern wird von Charedim dominiert. In Gestalt von Rabbi Weiss tritt ihm sozusagen von Amerika her seine eigene Vergangenheit entgegen.

Der Rabbinical Council of America, die Organisation orthodoxer Rabbiner in den Vereinigten Staaten, hat sich mittlerweile ostentativ hinter Avi Weiss gestellt. Der Kongressabgeordnete Eliot Engel aus Riverdale hat einen offiziellen Brief an Israels Premierminister Benjamin Netanjahu geschrieben, in dem er gegen die Behandlung von Weiss protestiert. In irgendeiner Form wird das israelische Oberrabbinat jetzt reagieren müssen.

Unterdessen wurde bekannt, dass Israels Oberrabbinat am Mittwoch einen Brief an Rabbi Weiss’ israelischen Anwalt, Assaf Benmelech, gesandt hat. Darin versichert das Rabbinat, es werde alle Zeugnisse akzeptieren, in denen Rabbi Weiss angehenden Ehepartnern, die in Israel heiraten möchten, bestätigt, dass sie jüdisch sind.

Weiss ist erleichtert über die neue Politik des Oberrabbinats. Er sagte, er sei dankbar, dass »die Ungerechtigkeit korrigiert wurde«.

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

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