Schweiz

Genossen unter Eid

Radeln für die nationale Sicherheit: Schweizer Soldaten im Alpenvorland Foto: Reuters

Es liege ihm, Leute zu führen, sagt der 31-jährige Leonardo Leupin aus Basel. Deshalb hat er nach seiner mehrmonatigen Dienstpflicht in der Schweizer Armee »weitergemacht«. Gemeint ist damit, im Dienstgrad aufzusteigen in einer der prestigeträchtigsten Armeen der Welt. Einer Truppe allerdings, die den Beweis ihrer Schlagkraft seit über 200 Jahren nicht mehr antreten musste.

Leonardo Leupin, der ein Soziologiestudium abgeschlossen hat, ficht Letzteres nicht wirklich an. Seine inzwischen bald 1.000 Diensttage waren ausgefüllt und anstrengend – auch ohne Ernstfall. Der Sanitätsoffizier kennt aus seiner Zeit beim Militär inzwischen fast alle Ecken der Schweiz – und hat mehr als einmal einen Schabbat oder einen Feiertag unfreiwillig in der Kaserne verbracht, einmal sogar ein Sukkotfest im eigenen Zelt.

pflichterfüllng Leonardo Leupin, in Südamerika aufgewachsen und als Jugendlicher in den Alpenstaat gekommen, ist nicht nur jüdisch, sondern auch orthodox. Ungeachtet mancher Probleme bei der Erfüllung der halachischen Gebote leistet er seinen Militärdienst ab. Das Judentum hat Leupin nie daran gehindert, seinen Pflichten als Soldat und später als Offizier nachzukommen. Auch wenn das etwa hieß: früher als alle anderen aufzustehen, um in aller Abgeschiedenheit die Gebete zu sprechen; auf den Besuch in der Kantine zu verzichten und von den eigenen koscheren Vorräten zu leben, sich also der sogenannten KKN-Diät zu unterziehen, wie er es selbst scherzhaft nennt: Koffein, Koscher-Kekse und Nikotin. Oder eben, den Schabbat in der Einsamkeit einer leeren Kaserne irgendwo im Land zu verbringen, wenn das »Abtreten« so spät kam, dass die Zeit vor Schabbat-Eingang nicht mehr reichte, um nach Hause zu fahren. Letzteres vielleicht auch, weil ein Vorgesetzter auf die entsprechende Bitte Leupins verständnislos oder sogar ablehnend reagierte.

»Ein Umstand, der mir allerdings nur selten passiert ist«, sagt Leupin. Denn im Allgemeinen sei er sehr fair behandelt worden. Und für den freien Schabbat habe er eben entsprechend oft den – bei den Kameraden unbeliebten – Sonntagsdienst verrichtet. »Manifester Antisemitismus ist im Kontext der Armee seit den 50er-Jahren eine Ausnahmeerscheinung«, bestätigt Rolf Stürm, Hauptmann außer Dienst und Verfasser einer Studie zum Thema.

Ähnlich sieht es auch Rolf Halonbrenner, der in der Geschäftsleitung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) für Religiöses und damit auch für die »jüdischen Wehrmänner« verantwortlich ist, wie die entsprechende Formulierung etwas martialisch heißt.

Seit der SIG ein Merkblatt ausgearbeitet habe, das allen Armee-Dienststellen zur Verfügung stehe, haben die jüdischen Soldaten kaum noch Probleme. Denn dort würden fast alle Fragen beantwortet. Wenig könne der SIG allerdings tun, wenn etwa ein jüdischer Soldat seinen Feiertagsurlaub zu spät einreiche.

Muslime Das Gesicht der Armee verändert sich stark – das allerdings weniger wegen der Handvoll jüdischer Rekruten, die jedes Jahr in Schweizer Kasernen ihren Dienst beginnen, als wegen der wachsenden Zahl muslimischer Soldaten. Das hat Konsequenzen, etwa bei den Ruhezeiten fürs Gebet. Bis in die Feldküche ist die jüdisch-muslimische Allianz allerdings noch nicht gedrungen, vor allem deshalb nicht, weil der Islam bei den Speisevorschriften weniger streng ist als die Halacha. Immerhin erhalten jüdisch-orthodoxe Soldaten einen Geldbetrag, damit sie sich selbst verpflegen können.

verteidigung Davon konnte Amy Bollag nur träumen: Der heute 85-Jährige leistete als junger Mann während des Zweiten Weltkriegs Militärdienst in der Schweizer Armee. Der gesetzestreue Jude musste sich ebenfalls selbst verpflegen – auf eigene Kosten. Für damalige jüdische Rekruten waren die Weltkriegsjahre eine überaus schwierige und quälende Zeit. Mit den Nachrichten von der Ermordung Verwandter und Freunde im Hinterkopf mussten sie zu einem Dienst antreten, der die Verteidigung des Landes gegen die mögliche braune Bedrohung vorsah, ungeachtet antisemitischer Anfeindungen innerhalb der eigenen Truppe. Dazu waren sie nicht selten mit Ausdrücken des militärischen Alltages konfrontiert, deren rassistische Herkunft offensichtlich war. So wurden Fleischkonserven – sie waren bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg gebräuchlich – inoffiziell nur »Gestampfter Jud« genannt.

Nicht selten gab es militärische Vorgesetzte, für deren demokratische und antinazistische Einstellung die jüdischen Soldaten ihre Hand nicht ins Feuer legen mochten.

In seinem Buch Die Zeit angehalten berichtet Amy Bollag von einem Major, mit dem er als Kavalleriesoldat 1944 konfrontiert war: »Nach ein paar Tagen hatten wir Inspektion durch einen Major. Er trug ein Monokel und eine Reitpeitsche und sprach nur Hochdeutsch mit Schweizer Akzent. (...) Auf einmal zeigte der Adjutant auf mich und sagte: ›Herr Major, sehen Sie den Mann auf der schwarzen Stute, der ist ein Jude und ein Landwirt dazu.‹ (...) Der Major reagierte so, als hätte der Unteroffizier zu einer Wand geredet. Es war zu viel für ihn. In sein antisemitisches Weltbild passte ein bäurischer, berittener Jude nicht hinein. Ohne Kommentar brach er seinen Besuch ab.«

Zahlreiche jüdische Soldaten hielten solche Erlebnisse aber nicht davon ab, ihre Militärdienstpflicht zu erfüllen. Sämtliche Präsidenten des SIG nach dem Zweiten Weltkrieg leisteten ihren »Aktivdienst« in der Schweizer Armee und wurden allesamt in einen höheren Dienstgrad befördert – ein außerhalb Israels wohl ziemlich einmaliger Vorgang.

Trends Leonardo Leupin übrigens hat seine Uniform zwischenzeitlich an den Nagel gehängt. Er absolviert in einer Jeschiwa in Israel eine Art Zwischenjahr. Er hätte sich auch durchaus vorstellen können, was unter Schweizer Jugendlichen mittlerweile fast ein Trend geworden ist, seinen Militärdienst in Israel zu leisten. Die Schweizer Verfassung, die mehrere Staatsangehörigkeiten zulässt, ermöglicht auch den Militärdienst in einer anderen Armee.

Die Schweizer Armee tröstet sich über den Umstand, dass ihr auf diese Weise einige Rekruten abhanden kommen, mit der Tatsache hinweg, dass der Technologieaustausch mit den israelischen Streitkräften wohl zu den weltweit intensivsten gehört und sämtliche Krisen der israelisch-schweizerischen Beziehungen völlig unbeschadet überstanden hat.

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

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