Schweden

Gedenken ohne Juden

Stadtansicht von Umeå Foto: Thinkstock

In der nordschwedischen Stadt Umeå ist es am Montagabend zu einem Eklat gekommen. Lokalpolitiker Jan Hägglund, Chef der linksgerichteten Arbeiterpartei in Umeå, hatte zwar zur offiziellen Gedenkmanifestation zur Pogromnacht Vorsitzende anderer Parteien eingeladen, aber keinen Vertreter der örtlichen jüdischen Gemeinde. Er erklärte, dass die Veranstalter nicht »deren Sicherheit gewährleisten« könnten.

Erst habe der Politiker »vergessen«, die jüdische Gemeinde einzuladen, dann habe er sein Verhalten damit gerechtfertigt, dass sich Juden möglicherweise »unwohl« fühlen könnten, berichtet Gemeindechefin Carinne Sjöberg der Jüdischen Allgemeinen. Schließlich hatten Palästinenser in der Vergangenheit bei ähnlichen Veranstaltungen Israelflaggen mit Hakenkreuzen geschwenkt, lautete Hägglunds Begründung. Statt der Novemberpogrome sollten bei der Gedenkveranstaltung die Flüchtlingssituation und der Kampf gegen Islamophobie im Mittelpunkt stehen.

Dabei gilt Historikern die Pogromnacht heute als das Datum, an dem die Nationalsozialisten zur offenen Gewalt gegen Juden übergingen. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November vor 77 Jahren waren in Deutschland und Österreich mehr als 1300 Menschen getötet und mindestens 1400 Synagogen zerstört worden.

beklemmend »Unverschämt«, findet die Gemeindevorsitzende Hägglunds Verhalten. Nur durch Zufall hatte sie von der geplanten Veranstaltung erfahren. »Er hätte uns immerhin anrufen und fragen können, ob wir Angst haben oder uns unwohl fühlen. Der wahre Grund, weshalb er uns nicht dabei haben wollte«, vermutet Sjöberg, die auch als Kommunalpolitikerin in Umeå aktiv ist, »war, dass er die muslimischen Flüchtlinge in den Fokus rücken wollte und ganz und gar nicht die Juden und den Holocaust.«

Politiker anderer Parteien hatten daraufhin die Veranstaltung boykottiert und nahmen stattdessen an einer alternativen Gedenkveranstaltung der Jüdischen Gemeinde teil. »Ich erwarte, dass sich Hägglund bei uns entschuldigt«, sagt die Gemeindechefin.

»Wir Kinder und Enkel von Überlebenden haben kein Grab, an dem wir trauern können, sondern nur diese zwei Tage im Jahr, den 9. November und den 27. Januar«, macht Sjöberg ihrer Empörung Luft. »Wollen sie uns jetzt etwa auch noch unsere Geschichte stehlen?« Sie empfindet die ganze Situation als »beklemmend«.

naiv Auch der Stockholmer Autor und Kolumnist Henry Bronett ist fassungslos. »Es gibt in Schweden seit Jahren die Tendenz, das Erinnern an die Novemberpogrome in eine ›allgemeine antirassistische Manifestation‹ umzuwandeln«, so seine Beobachtung. So werde der Kern des Gedenkens bewusst »vergessen«, stellt Bronett fest, dessen Großmutter den 9. November 1938 erlebt hatte und sich weigerte, darüber zu sprechen.

»Gedankenlos, naiv – und auch dumm«, nennt er diese Haltung. Denn jeder Einzelne habe die Verantwortung für das, was er weiß und was nicht. »Heute kann man sich dank des Internets überall informieren, was dieser Tag eigentlich bedeutet«, empört sich Bronett. »Wenn man in einer Demokratie lebt, sollte man gerade an solch einem Tag zusehen, dass auch alle beteiligt sind – egal, ob Juden, Christen, Muslime oder Atheisten.«

In Schweden wolle man nichts von der Geschichte wissen, beklagt Carinne Sjöberg. Dabei brauche eine demokratische Gesellschaft Wissen um die Vergangenheit als Verankerung. Der jetzige Eklat in Schweden habe sehr viel damit zu tun, dass das Land seine eigene Geschichte gerne verdrängt, so auch Henry Bronetts Einschätzung. »Viele sehen das so: ›Den Juden geht es doch heute gut, aber die Flüchtlinge, denen muss man jetzt helfen‹.«

unsicher Dass viele Juden sich in dem skandinavischen Land unsicher fühlen, sich nicht trauten zuzugeben, dass sie Juden sind, und jüdische Symbole zu tragen und man zudem in jüdischen Einrichtungen mehrere Sicherheitsschleusen passieren müsse, gehöre jedoch zum Alltag.

Hinzu kommt, meint Bronett, dass man in Schweden ein »naives« Demokratieverständnis habe: Schweden sehen sich gern als offen und liberal. Doch zu Offenheit und Liberalität gehöre auch Deutlichkeit, meint der Autor. Gerade die jedoch vermisst er in Schweden. Denn zu dem Unwillen, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, geselle sich außerdem eine weit verbreitete Scheu vor Konflikten sowie die Angst, als Rassist oder Antisemit bezeichnet zu werden.

Vielmehr werde angestrebt, dass »alle sich einigen«. Im Fall von Umeå habe man sich auf eine Art geeinigt, dass es antisemitisch wird. »Das ist der Punkt, an dem es absurd wird«, stellt Bronett fest. »Je mehr dieser Absurditäten man zulässt – und je weniger Konflikte –, umso mehr frage ich mich, wo wir in zehn Jahren stehen werden«, warnt Carinne Sjöberg. Sie sieht durchaus historische Parallelen: Genau so habe es vor fast 80 Jahren auch angefangen.

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