Sarah Hurwitz

»Es gibt so viel zu lernen«

Die Redenschreiberin bei einer Dienstreise: Sarah Hurwitz mit ihrer damaligen Chefin Michelle Obama Foto: Chuck Kennedy/ The White House

Frau Hurwitz, Sie schreiben in Ihrem neuen Buch »Here All Along – A Reintroduction to Judaism« über Ihre Kindheit im Reformjudentum und dass Sie nach Ihrer Batmizwa keine Lust mehr auf die »Hebrew School« hatten. Danach waren Sie nur an den Hohen Feiertagen in der Synagoge. Mit 36 haben Sie sich entschlossen, eine »Judaism Class« in Washington zu besuchen. Was war passiert?
Mein Freund und ich haben uns getrennt, und auf einmal hatte ich sehr viel Zeit zur Verfügung. Zufällig bekam ich eine E-Mail vom jüdischen Gemeindezentrum in Washington, in der dieser Kurs angekündigt wurde. Und ich dachte: Okay, das wird meine Mittwochabende füllen. Ich war nicht auf irgendeiner spirituellen Reise und habe mir keine Erleuchtung oder Séance versprochen. Aber als ich damit begann, jüdische Texte zu studieren, war ich verblüfft, inspiriert und bewegt. Ich habe erkannt, dass sie für mich als modernen Menschen sehr viel Weisheit und Einsicht zu bieten hatten. Nach diesem Kurs habe ich einen weiteren Einführungskurs belegt, und auf einmal habe ich nicht nur Bücher gelesen, sondern mich auch mit Rabbinern getroffen und wunderbare jüdische Meditations-Retreats besucht. Und je mehr ich gelernt habe, desto mehr wollte ich erfahren.

Welche Texte haben Sie zuerst studiert?
Wir haben Texte aus Talmud und Tora gelesen und Texte von jüdischen Denkern über jüdische Ethik, die Feiertage und den Schabbat.

Sie waren Redenschreiberin im Weißen Haus und haben Reden für Michelle Oba-ma, die First Lady der USA, und auch für ihren Mann, US-Präsident Barack Obama, verfasst. Ihr Job war faszinierend, aber etwas fehlte Ihnen ...
Es hat mir unglaublichen Spaß gemacht, für die Obamas zu arbeiten. Michelle Obama ist eine brillante, leidenschaftliche und sehr talentierte Frau. Sie weiß, wer sie ist, und sie weiß immer, was sie sagen will. Reden für einen solchen Menschen zu schreiben, ist einfach ein Vergnügen. Zu ihren Mitarbeitern war sie unglaublich freundlich. Ich war viel mit ihr im Ausland unterwegs, und es war toll zu sehen, wie Menschen auf die Obamas reagierten und besonders auf die Geschichte von Michelle Obama, die in sehr bescheidenen Verhältnissen aufwuchs und es trotzdem geschafft hat, auf eine Elite-Universität zu gehen und Anwältin zu werden. Viele junge Menschen auf der ganzen Welt hat diese Geschichte sehr bewegt. Was mir fehlte? Ich glaube, dass etliche von uns in unserem modernen Leben nicht viel Raum haben, um uns mit den wirklich großen Fragen auseinanderzusetzen. Warum bin ich hier? Was ist mein Zweck auf Erden? Was bedeutet es, ein gutes Leben zu führen und ein guter Mensch zu sein? Wie finde ich einen spirituellen Zustand, wie verstehe ich Gott und das Göttliche? In unserem Alltag haben wir einfach keine Zeit dafür. Durch meine jüdischen Studien habe ich die Gelegenheit gefunden, mich mit diesen großen Dingen auseinanderzusetzen. Ich habe dadurch auch einen Draht zu anderen Juden hergestellt, denn wenn man jüdische Texte liest, bekommt man eine Verbindung zu unseren Vorfahren. Aber nicht nur das. Mir wurde klar, dass Juden in der ganzen Welt dieselben Texte studieren, und auch das gab mir einen Sinn für Identität.

Würden Sie sich als »Baalat Teschuwa« bezeichnen – als Jüdin, die zur Religion zurückgekehrt ist? Oder ist das ein Etikett, das Sie sich nicht anheften würden?
(Lacht). Ich weiß, manche Leute finden meinen Trip verwirrend, und sie sehen den Titel meines Buches und denken, dass ich sehr religiös geworden bin – »Schomer Schabbes«. Ich glaube, es gibt Missverständnisse darüber, was religiöse Observanz bedeutet. Wenn Menschen fragen, wie observant ich bin, meinen sie die rituellen Mizwot. Hältst du Schabbat? Isst du koscher? Hältst du dich an dieses und jenes Ritual? Aber viele unserer Gebote sind ethische Mizwot. Wie sprichst du mit anderen? Wie gehst du mit Menschen um, die verletzlich sind? Bist du ehrlich? Bist du freundlich? Ich bin in dieser Hinsicht observanter geworden als vorher – nicht so sehr, was die rituellen Mizwot betrifft. Vor allem ist mir klar geworden, wie sehr ich daran arbeiten muss, und dass ich nicht der Mensch bin, der ich gerne sein möchte. Ich denke, es ist eine zu enge Definition des Judentums, wenn es nur darum geht, welche rituellen Gebote man einhält. Denn es gibt viele verschiedene Wege, ein observanter Jude zu sein.

Sie zitieren Rabbiner Joseph Telushkin, der sagt, Zweck jüdischer Existenz sei nicht, koscher zu essen, Jiddisch zu sprechen oder jüdische Witze zu erzählen, sondern das Böse in der Welt zu bekämpfen und Leid zu reduzieren. Stimmen Sie ihm zu?
Ja, aber andererseits ruft jede Religion dazu auf, das Böse zu bekämpfen und das Leid zu reduzieren. Es geht nicht nur darum, einfach »ein guter Mensch zu sein«. Das ist keine einzigartige jüdische Herangehensweise. Wir müssen es auf unsere Art und Weise tun. Wir haben jüdische Gesetze, die uns sagen, wie wir es machen sollen, und dafür müssen wir tief in diese jüdische Weisheit eintauchen.

Als Erwachsener in der Diaspora ist es nicht einfach, jüdische Texte zu studieren. Wie kommen Sie als Amerikanerin mit Hebräisch klar? Haben Sie es in der »Hebrew School« als Teenager gelernt?
Ich kann Hebräisch lesen, aber ich spreche es nicht. Für mich ist das ein bisschen frustrierend, denn Übersetzungen sind immer auch Kommentare. Aber andererseits gibt es viele gute Übersetzungen, und dann stellt sich natürlich die Frage, ob ich jetzt erst einmal fünf Jahre Hebräisch lerne, um es gut genug zu können und selbst zu übersetzen, oder ob ich mich stattdessen lieber mit übersetzten Texten behelfe. Ich habe mich dafür entschieden, nicht allzu tief ins Hebräisch-Lernen einzutauchen, aber man kann auch so viel über das Judentum lernen. Ich könnte keine wissenschaftlichen Bücher lesen und nicht unterrichten, aber ich bin kein Rabbi, ich bin nur eine gewöhnliche Jüdin, die für sich selbst lernen und ihr Wissen mit anderen teilen möchte.

Sie schreiben darüber, dass Sie natürlich nicht die einzige Jüdin sind, die mit ihrer Identität kämpft, sondern dass auch streng orthodoxe Juden diese Krisen durchmachen. Dachten Sie denn vorher, dass Religiöse den richtigen Weg kennen und es ihnen deshalb automatisch immer gut geht?
Ehrlich gesagt, ja. Ich habe über die religiösen Juden immer gedacht, dass sie für alles eine Lösung haben. Aber je mehr observante Juden ich kennengelernt habe, desto mehr wurde mir klar, dass auch sie lernen, und dass auch sie zu kämpfen haben. Das ist das tief Jüdische daran, dafür ist unsere Tradition gemacht. Sie ist nicht dogmatisch – ein Bund voller Regeln, die man minutiös zu befolgen hat. Wir lernen, wir denken, wir streiten, wir stellen Fragen.

Bevor Sie sich mit der Tradition auseinandergesetzt haben, fanden Sie die meisten jüdischen Feiertage – um Sie zu zitieren – langweilig und schwer verständlich. Wie denken Sie heute über Sukkot?
Heute denke ich, dass alle Feiertage eine tiefe Bedeutung haben können, und Sukkot ist dafür ein perfektes Beispiel. Eine Sukka hat eine völlig fragile Struktur, sie ist offen für Wind, Regen und Kälte, aber sie ist auch offen für die Sonne, frische Luft und die guten Dinge. Und wir sollen innerhalb dieser instabilen Konstruktion essen und es uns gut gehen lassen. Es ist ein bisschen ungemütlich, aber uns wird gesagt: Habt Spaß! Das ist ein Beispiel dafür, wie das Judentum uns zeigt, das Leben aufzufassen. Egal, was passiert, egal, auf welche Schwierigkeiten wir stoßen, uns wird gesagt: Seid dankbar dafür, dass ihr am Leben seid, und genießt es! Ich liebe Sukkot!

Im Weißen Haus hatten Sie einen sehr anstrengenden Job, wussten nie, wie lange der Arbeitstag dauert. Haben Sie es geschafft, sich an die Schabbatregeln im engeren Sinn zu halten? Konnten Sie sich für einen Tag aus allem herausziehen?
Im Weißen Haus konnte ich das für einen bestimmten Zeitraum sogar tun, und ich konnte meinen Kollegen sagen, dass ich keine E-Mails checken würde. Mein Telefon ließ ich zur Sicherheit an, aber sie haben mich netterweise nie angerufen. Es war möglich, aber nicht einfach. Gegen Ende meiner Zeit im Weißen Haus war es nicht mehr möglich, es war einfach zu viel zu tun. Wenn ich darauf bestanden hätte, wäre es machbar gewesen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass es ein so essenzieller Teil meiner jüdischen Praxis gewesen wäre, dass ich es tun musste. Auch heute, obwohl ich nicht mehr im Weißen Haus arbeite, halte ich keine strikten Schabbatregeln ein. Am Wochenende arbeite ich normalerweise, aber am Freitagabend versuche ich, ein Schabbatabendessen mit meinen Freunden zu verbringen, also offline und mit anderen zusammen zu sein. Es gibt viele Wege, den Schabbat zu halten.

Sie beschreiben einerseits jüdischen Pluralismus und andererseits die Kluft zwischen pro-israelischen Juden in den USA und anderen, die Israel hart kritisieren. Wie schwierig ist es, Herausforderungen zu meistern und im Dialog zu bleiben, wenn US-Präsident Donald Trump jüdische Wähler der Demokraten »illoyal« nennt?
Die wichtigste Herausforderung der Zukunft ist jüdische Bildung. Ich spreche dabei nicht von akademischen Fingerübungen, sondern darüber, dass man genug über die Tradition weiß, um ein tiefes emotionales und inspirierendes Gefühl für das Judentum zu haben. Vor fünf Jahren wusste ich zum Beispiel nichts darüber. Ich dachte: Das ist so altmodisch, ich bin intelligent, ich brauche keine Religion. Aber als ich zu lernen begann, war ich bewegt und inspiriert. Wir müssen also genug lernen, um uns wieder mit dem Judentum verbunden zu fühlen und es zu lieben.

Manche Rabbiner in den USA warnen vor interreligiösen Ehen, weil sie ihrer Ansicht nach die Zukunft des Judentums gefährden. Wie sollten die Gemeinden Ihrer Meinung nach damit umgehen?
Ich denke, es wäre ein großer Fehler, »gemischte Ehen« als Bedrohung darzustellen. Ich denke, wir sollten sie als Gelegenheit sehen, viel mehr Menschen warmherzig in der jüdischen Familie willkommen zu heißen und mit ihnen zu teilen, was wir am Judentum lieben. Wenn sie konvertieren, großartig. Und wenn nicht, möchte ich, dass sie sich genauso willkommen und geliebt fühlen. 72 Prozent der nichtorthodoxen amerikanischen Juden sind mit Nichtjuden verheiratet, dieser Zug ist abgefahren. Übrigens sind viele nichtjüdische Partner in diesen Ehen interessierter am Judentum als die jüdischen Partner. Die Nichtjuden sind diejenigen, die die gemeinsamen Kinder zur Hebrew School schicken oder zum Kinderschabbat. Wir sollten uns darüber freuen!

Wie sehen Sie Ihre berufliche Zukunft? Würden Sie gerne wieder im Weißen Haus arbeiten, falls ein Demokrat nach der nächsten Wahl Donald Trump ablöst?
Das ist eine große Frage. Es war toll, dieses Buch zu schreiben, und ich habe schon eine Idee für ein weiteres Buch. Wenn es wieder eine Gelegenheit in der Politik gibt, werde ich sicherlich auch darüber nachdenken. Auf jeden Fall werde ich weiterhin jüdische Texte studieren. Damit kann man ein ganzes Leben verbringen, und man hat noch nicht einmal die Oberfläche gestreift. Das ist das Tolle daran. Es gibt so viel zu lernen!

Mit der Redenschreiberin und Autorin sprach Ayala Goldmann.

Sarah Hurwitz: »Here All Along: A Reintroduction to Judaism. Finding Meaning, Spirituality, and a Deeper Connection to Life in Judaism (After Finally Choosing to Look There)«. Spiegel and Grau, New York 2019, 352 S., 25,20 US-$

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