Italien

Ein zweites Leben für Chieris Synagoge

Außenansicht der Synagoge im ersten Stock Foto: Jüdische Gemeinde Turin/ Stiftung für Jüdisches Kulturerbe

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Ein zweites Leben für Chieris Synagoge

Die einst wichtigste Barocksynagoge im Piemont sollte Wohnungen weichen. Nun gibt es andere Pläne

von Andrea M. Jarach  04.08.2024 14:30 Uhr

Das norditalienische 36.000-Einwohner-Städtchen Chieri, 17 Kilometer südöstlich von Turin, war einst Heimat der wichtigsten Barocksynagoge in Piemont. Heute sind deren Räume ein bröckelndes Renovierungsprojekt. Doch der gerade wiedergewählte Bürgermeister will nun deren lang geplante Transformation in ein Museum besiegeln.

Etwa seit Ende des 14. Jahrhunderts lebten Juden in der Stadt, vor allem Ärzte und Banker. Im 17. Jahrhundert sorgte eine hebräische Buchpresse für Bekanntheit. 1723 zwangen die Savoyer die etwa 70 in Chieri lebenden Juden ins Ghetto, das aus einem Wohnblock mit drei Innenhöfen bestand. Die Synagoge wurde 1724 in einem der Gebäudeflügel eingerichtet, ein kleines Juwel im barocken Stil. Große Fenster an beiden Längsseiten, eine mit Fresken verzierte Decke mit biblischen Motiven und gotische Friese – da konnten nicht einmal die Tempel von Saluzzo und Casale mithalten.

Restaurierung kostet rund 800.000 Euro

Chieris rund 165 Quadratmeter großen Beträume wurden fast zwei Jahrhunderte lang genutzt. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Gemeinschaft auf 150 Mitglieder angewachsen, die bis Anfang des 20. Jahrhunderts aber stetig kleiner wurde. Die wenigen verbliebenen Familien schlossen sich 1917 der Turiner Gemeinde an. Dann brach die Schoa über Europas Juden herein. 1946 ersetzte der Tora-Schrank der Synagoge von Chieri die zerstörte Einrichtung der bis heute aktiven kleinen Synagoge von Turin. Chieris Barockjuwel hingegen wurde 1957 als Wohnraum in private Hände verkauft. Zuletzt stand es zwei Jahre lang als dringend renovierungsbedürftige Wohnung zum Verkauf, für 180.000 Euro.

Mit der Wiederwahl von Chieris Bürgermeister Alessandro Sicchiero vom Mitte-Links Bündnis wird eine andere Zukunft für die ehemalige Synagoge möglich. Gerade unterstützte er im Stadtrat den Vorschlag von Dario Disegni, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Turin und Direktor der Stiftung für das italienische jüdische kulturelle Erbe, ein Museum für die jüdische Geschichte in der Region daraus zu machen. Für die Restaurierung sind zusätzlich zum Kaufpreis etwa 800.000 Euro veranschlagt. Fehlt noch das grüne Licht von der Gemeindeversammlung, der Region und des Kultusministeriums. Auch die jüdische Gemeinde soll sich beteiligen. Und Piemonts Ministerpräsident Alberto Cirio von Forza Italia scheint dem Projekt ebenfalls wohlgesonnen.

Nun kann man sich fragen, ob dies angesichts des grassierenden Antisemitismus seit dem 7. Oktober der richtige Zeitpunkt sei. Vor wenigen Tagen erst wurde in Saluzzo die Gedenktafel für die im Zweiten Weltkrieg deportierten Juden mit propalästinensischen Slogans beschmiert. Während die Demokratische Partei (PD) von Elly Schlein sich in Äquidistanz zum Krieg in Nahost übt, stößt Melonis Partei, trotz der ans Licht gebrachten »Sieg Heil«-Rufe in der Jugendorganisation und dem Versuch, die Verfassung zu ändern, wegen ihres klar pro-israelischen Kurses auf diffuse Sympathie in der jüdischen Gemeinde.

Diffuse Sympathie

Emanuele Fiano, selbst Jude und Abgeordneter der PD, erklärt sich diesen Widerspruch damit, dass wenige Vorsteher jüdischer Gemeinden selbst die faschistische Diktatur miterlebt hätten. Viele stammten aus Libyen oder anderen arabischen Ländern, sagt Fiano, wie der – von einigen Mitgliedern für seinen offenen Zuspruch zum Mitte-Rechts-Bündnis kritisierte – Leiter der Gemeinde Mailand, Walker Meghnagi, der das größere Problem im islamischen Extremismus sieht.

Vor diesem Hintergrund verfolgt Dario Disegni mit Enthusiasmus das Projekt in Chieri. Paradoxerweise ist gerade die rechte Regierung, die noch viel tun muss, um sich ihrer Wurzeln im Faschismus zu entledigen, ein guter Ansprechpartner. Vor Kurzem erst verteidigte Melonis Regierung Liliana Segre, die Leiterin der Senatskommission gegen Hass und Antisemitismus, gegen antisemitische Anfeindungen – und sie trägt den Namen einer der berühmtesten jüdischen Familien Chieris.

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