Österreich

»Drück mich!«

Thyago Ohanas Kalkül: Mit den Umarmungen will er andere und sich selbst wieder froh machen. Foto: Jutta Sommerbauer

Warum sollte man sich mitten in der Wiener Innenstadt von einem Unbekannten umarmen lassen? Vor allen Leuten? Einfach so? Diese berechtigte Frage löst sich auf wundersame Weise in Luft auf, wenn man Thyago Ohana gegenübersteht. Diesen jungen Mann will man einfach anlächeln, umarmen, ihm vielleicht gar ein Bussi auf die Wange drücken, wie es in Wien Konvention ist. Doch halt! Das Bussigeben ist Thyago Ohanas Sache nicht. Sein Business ist Umarmen. Hugging. Wobei: Ein Geschäft ist es eben nicht. Thyago Ohana verteilt seine Zuneigung, seine »Liebe«, wie er sagt, kostenlos.

»Free Hugs« steht auf dem Schild, mit dem der 31-Jährige durch die Kärntner Straße, Wiens beliebteste Fußgängerzone, läuft. Das dunkle Haar kurz geschnitten, den Kopf hoch erhoben, ein enges Superman-T-Shirt am muskulösen Oberkörper, den silbrig-blauen Davidstern-Anhänger um den Hals: Das ist Thyago in Aktion.

»Free Hugs«, ruft er in die Menge der Einkäufer und Flaneure. »Come on, it’s for free! Eine gratis Umarmung, Ladies? Nein? Come on, give me a smile!« Eine Gruppe männlicher Teenager macht peinlich berührt einen Bogen um ihn, zwei Freundinnen kichern, neugierige, interessierte, ungläubige Blicke – und dann passiert es: Ein junges Paar stürmt auf Thyago zu, will umarmt werden, beide, Mädchen und Junge, nacheinander. Und sie wollen ein Foto, auch das bekommen sie. »Super, was du machst«, geben sie Thyago mit. Für solche Momente umarmt er.

Geschichte »Free Hugs« ist ein Phänomen im öffentlichen Raum, das es in westlichen Städten seit geraumer Zeit gibt. Auf die Idee, Umarmungen zu verschenken, kam 2004 ein Australier, als es ihm nicht gut ging. Also ging er auf die Straße hinaus mit einem Schild, auf dem »Free Hugs« stand. Das Kalkül: Mit den Umarmungen andere und sich selbst wieder froh zu machen. Nicht Seelenfrieden, sondern Happiness ist das Ziel. Die Aktion verbreitete sich im Internet. Auch in anderen Städten begannen junge Leute, Fremde zu umarmen.

Auf der Interaktionsskala liegt die Umarmung irgendwo zwischen dem formelleren Händedruck und dem Kuss. Sie beinhaltet Körperkontakt, bleibt aber freundschaftlich; sie schafft Wärme, drückt Zuneigung aus, ist aber unverbindlich. Oft bleibt es bei einer. Der Hug durchkreuzt die Anonymität des modernen städtischen Lebens, die Umarmung durchbricht für einen Moment das Alleinsein, sie bedeutet in ihrer Sekunden-Essenz: Jemand hat dich gern. »Es ist dieser Überraschungseffekt: menschliche Verbindung mit einem Unbekannten. Normalerweise passiert das nicht auf der Straße. Mit Free Hugs ist es möglich«, sagt Thyago Ohana.

Vor vier Jahren umarmten ihn zwei Franzosen in Paris. Der junge Mann hatte damals einen schlechten Tag. Wenn er über den Vorfall spricht, klingt es wie ein Erweckungserlebnis: »Als ich einen von ihnen umarmte, konnte ich nicht mehr aufhören zu lächeln.« Eine Umarmung fühlt sich gut an für den Moment – aber manchmal verändert sie das ganze Leben. Die Umarmung in Paris zählte zur zweiten Kategorie.

Experiment Von seinem Pariser Erlebnis angesteckt, wollte sich Thyago Ohana selbst im Hugging versuchen. »Ich bin hyperaktiv«, sagt er. »Ich habe die Energie, um Dinge wie diese zu tun.« Doch er wusste, dass das grantelnde Wien ein hartes Pflaster für die Verbreitung von Fröhlichkeit sein würde. Er begann sein soziales Experiment an einem internationalen Ort: neben der Oper, auf der Kärntner Straße, wo viele Touristen vorbeikommen. Thyago setzte auf ihre gute Laune. An seine erste Umarmung kann er sich zwar nicht mehr erinnern, aber die Performance war ein Erfolg.

Aus der einmaligen Aktion ist eine Gruppe von etwa 15 regelmäßigen Huggern entstanden, deren Termine Thyago koordiniert. Die Facebook-Seite namens »Free Hugs Vienna« hat mittlerweile fast 900 Freunde. Es gibt eine Menge Youtube-Videos, Auftritte im Fernsehen, und Thyago genießt inzwischen einen gewissen Celebrity-Status. Sogar in einer kleinen Kneipe in Dortmund erkannte ein Gast den »free hugs guy« aus Wien.

Thyago umarmt am liebsten Außenseiter. »Ich war immer Teil einer Minderheit«, sagt er. »Als Kind war ich dick, ich bin Jude, schwul, in Österreich ein Ausländer. Ich weiß, wie es ist, sich innerhalb einer Gruppe anders zu fühlen.« In seinem Leben hat er oft von einer sozialen Gruppe zur nächsten gewechselt.

Von Brasilien, wo er in eine religiöse, sefardische Familie marokkanischer Juden geboren wurde, ging er mit 19 in die USA, um in einer Jeschiwa für religiöse »Rückkehrer« (Ba’alei Teschuwa) in New Jersey Antworten auf Fragen zu seiner Identität zu finden.

Sein Jüdischsein ist für Thyago Ohana heute vor allem mit den Worten Stolz und Erbe verbunden. Nach Wien kam er vor zehn Jahren, um an der Lauder Business School Marketing und Management zu studieren. Als besonders religiös betrachtet er sich nicht mehr. Dennoch fühlt er sich nach wie vor der Chabad-Bewegung verbunden. Mittlerweile arbeitet Ohana als Grafikdesigner und als Marketingbeauftragter in der indischen Botschaft in Wien. Seine Leidenschaft: das Reisen.

zuhause Thyago Ohana hat viel von der Welt gesehen. Auch in Israel, wo er Verwandte hat, war er mehrfach. Er habe sich dort »zu Hause« gefühlt, sagt er. Es sei viel schneller gegangen als in Österreich, wo er seit zehn Jahren lebt und demnächst die Staatsbürgerschaft bekommen wird. »Ich wäre gerne Österreicher, aber die Umgebung gibt mir ein anderes Gefühl. Ich fühle mich hier noch immer als Ausländer.« Vielleicht fühlt er sich deshalb auf der Kärntner Straße wohl, wo es multikulturell, energisch und vergnügt zugeht. Ein bisschen so, wie er es ist.

Eine Umarmung könne das ganze Leben verändern, ist Thyago Ohana überzeugt. Meist ist es ein Moment, den man nicht so schnell wieder vergisst. »Es ist das beste Souvenir aus Wien, das ihr mitnehmen könnt!«, ruft Thyago den Passanten nach.

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

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