Afghanistan

Die wohl wirklich Letzte

Möchte zu ihrer Tochter nach Kanada ziehen: Tova Moradi (83) Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Nein, Zebulon Simentov war nicht der letzte in Afghanistan lebende Jude. Denn da ist noch seine entfernte Cousine Tova Moradi, die wie er in Kabul geboren wurde und dort aufwuchs. Bis Ende Oktober lebte sie in der afghanischen Hauptstadt. Ein herzliches Verhältnis verband die beiden nicht, dem Vernehmen nach sprachen sie schon jahrelang nicht mehr miteinander.

Für Juden war das Leben in Afghanistan nie einfach, aber fünf Jahre vor der Geburt der heute 83-jährigen Tova Moradi wurden die Zeiten für sie noch unsicherer. Mit der Ermordung des amtierenden afghanischen Königs Mohammed Nadir Schah im November 1933 begann der Exodus der Juden, denn es wurden harte judenfeindliche Vorschriften erlassen: Jüdische Afghanen wurden gezwungen, an ihre Geburtsorte zurückzukehren, in der Regel waren dies die Städte Herat und Kabul. Sie mussten spezielle Kleidung tragen, die sie als Juden kennzeichnete. Jüdische Männer durften keine Reittiere mehr nutzen, und ihren Frauen war es verboten, Märkte zu besuchen.

regeln Auch für den Hausbau galten strikte Regeln: Juden mussten beim Neubau einen gewissen Abstand von Moscheen halten, und die Dächer ihrer Häuser durften nicht höher sein als die ihrer muslimischen Nachbarn.

Schätzungen zufolge lebten in den 30er-Jahren rund 40.000 Juden in Afghanistan. Bis 1969 wanderten die meisten aus. Und nach der sowjetischen Invasion 1989 lebten nur noch zehn Juden in Afghanistan. »Ich habe mein Land sehr geliebt«, sagte Tova Moradi Ende Oktober im Gespräch mit Journalisten in ihrem albanischen Übergangs-Exil und fügte hinzu: »Aber ich musste es verlassen, weil meine Kinder dort in Gefahr waren.«

In Golem, einem Badeort an der Adriaküste, rund 25 Kilometer von der albanischen Hauptstadt Tirana entfernt, wurden seit September Notunterkünfte für mehr als 2000 afghanische Flüchtlinge geschaffen. Tova Moradi erzählte dort vor Journalisten aus ihrem Leben.

Im Alter von 16 Jahren tat sie etwas Unerhörtes: Sie riss von zu Hause aus und heiratete einen Muslim.

Geboren als eines von zehn Kindern einer jüdisch-afghanischen Familie, tat sie im Alter von 16 Jahren etwas Unerhörtes: Sie riss von zu Hause aus und heiratete einen Muslim. Zum Islam trat sie jedoch nie über, sondern behielt die jüdischen Traditionen bei.

Aus ihrer Religion machte Tova Moradi nie ein Geheimnis, wie ihre seit den 90er-Jahren in Kanada lebende Tochter Khorshid berichtet. Viele von Moradis Familienmitgliedern haben Afghanistan schon vor Jahrzehnten verlassen, ihre in den 60er-Jahren ausgewanderten Eltern sind in Jerusalem begraben, einige Geschwister und deren Familien leben in Israel.

VERWANDTE Viel Kontakt zu ihren Verwandten hatte Tova Moradi nicht, denn Teile der Familie nahmen es ihr übel, dass sie einen muslimischen Mann geheiratet hatte. Dabei hatte sie ausgerechnet während der ersten Herrschaft der Taliban in den 90er-Jahren enormen Mut bewiesen: Sie versteckte den letzten Rabbiner des Landes, Isaak Levi, einen Monat lang vor den Islamisten.

An diesem Punkt könnten sich die Wege von Cousin Simentov und Cousine Moradi gekreuzt haben, denn der Mann, der sich so gern als »letzter Jude Afghanistans« feiern ließ, hatte einige Jahre mit Rabbiner Levi in der Kabuler Synagoge gelebt. Bedauerlicherweise konnten die beiden Männer einander nicht ausstehen und machten sich gegenseitig das Leben schwer.

Als Tova Moradi und ihr Mann den Rabbiner in ihrer Wohnung versteckt hielten, hätten sie ihn bei einer Kontrolle als Muslim ausgegeben, berichtet Tova Moradi den Journalisten, die mit ihr in Albanien sprechen. Geplant sei gewesen, ihn außer Landes zu schmuggeln, aber der Rabbi sei sehr krank geworden und starb im Jahr 2005. Sein Widersacher Simentov sei darüber froh gewesen, berichteten internationale Medien. Tova Moradi möchte das nicht kommentieren. Sie erwähnt lediglich, dass Levi in Israel begraben wurde und sie seinen Pass als Andenken aufbewahrt habe.

SORGEN Mit der erneuten Machtübernahme der Taliban im Sommer begann für Tova Moradi erneut eine Zeit großer Unsicherheit. Ihre Tochter Khorshid versuchte von Toronto aus, eine Fluchtmöglichkeit für die Mutter zu finden. Sie habe zwei Monate lang vor lauter Sorgen kaum schlafen können, berichtet sie.

Dem berühmten letzten Juden von Afghanistan erging es da wesentlich besser: Zebulon Simentov wurde Anfang September zusammen mit 29 Nachbarn aus Kabul in ein Nachbarland gebracht. Er hatte sich jahrelang geweigert, das Land zu verlassen und nach Israel zu gehen, wohl auch, weil er seiner schon lange mit den gemeinsamen Kindern dort lebenden Frau hartnäckig den Get, den Scheidebrief, verweigerte.

Nun aber überwog die Angst vor radikalen Terrorgruppen, und Simentov willigte ein, Afghanistan zu verlassen.

Vor 20 Jahren versteckte sie den letzten Rabbiner des Landes vor Islamisten in ihrer Wohnung.

Um Tova Moradi und ihrer Familie die Ausreise zu ermöglichen, nahm der durch einen von Tovas Söhnen alarmierte jüdisch-kanadische Geschäftsmann Joseph Friedberg Kontakt mit der israelischen Hilfsorganisation IsraAid auf. Gemeinsam mit afghanischen Diplomaten im Ausland, dem Büro des israelischen Staatspräsidenten Isaac Herzog sowie internationalen Geschäftsleuten gelang es, die Moradis nach Albanien zu bringen.

freunde Über Details möchte keiner der Beteiligten reden, lediglich der israelisch-kasachische Milliardär Alexander Mashkevich erklärte der »Washington Post«, er habe alle seine Freunde bemüht, denn es sei »eine sehr schwierige Sache gewesen«.

Und so hat die Geschichte der letzten Juden und Jüdinnen in Afghanistan ein gutes Ende genommen, auch wenn sich Zebulon Simentov und Tova Moradi wohl nie wiedersehen werden, denn sie wird nach Kanada ziehen. Mit ihren in Israel lebenden Verwandten hat sie endlich wieder Kontakt und schon per Stream mit ihnen gesprochen. Und auch für Simentovs Ehefrau gab es vor einigen Wochen ein Happy End: Ihr Mann willigte in die Scheidung ein.

Frankreich

Jüdische Kinder vergiftet, aber Antisemitismus spielt keine Rolle

Ein Kindermädchen, das ihre jüdischen Arbeitgeber vergiftet hatte, wurde nun in Nanterre verurteilt - allerdings spielte ihr Antisemitismus im Urteil keine Rolle. Das sorgt für Protest

 22.12.2025

Australien

Gedenken am Bondi Beach – Forderung nach Aufklärung

Kerzen, Schweigen, Applaus und Buh-Rufe: Am Strand in Sydney trauern Tausende um die Opfer des Anschlags. Was die jüdische Gemeinde und Australiens Politik jetzt fordern

 22.12.2025

Belgien

IS droht mit Anschlägen auf Synagogen und Kirchen

Die Hintergründe

 18.12.2025

Sydney

Jüdische Bäckerei schließt wegen Antisemitismus

Nach Jahren der Anfeindungen und dem schwersten antisemitischen Anschlag auf australischem Boden hat eine beliebte jüdische Bäckerei für immer geschlossen

 18.12.2025

Strassburg

Glühwein und Kippa

In der selbst ernannten »Weihnachtshauptstadt« lebt eine traditionsbewusste jüdische Gemeinde. Wie passt das zusammen? Eine Reise zu koscheren Plätzchen und Pralinen mit »Jahresendgeschmack«

von Mascha Malburg  18.12.2025

Meinung

Weitermachen oder die jüdische Resilienz

Verfolgung, Exil und Gewalt konnten es nicht brechen: Die Widerstandsfähigkeit des jüdischen Volkes prägt seine Geschichte bis heute

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Australien

Bericht: Die Heldentat von Ahmed Al-Ahmed sorgt auch in Syrien für Jubel

Die Berichterstattung über den »Helden von Sydney« hat auch dessen Heimatort erreicht und bringt Stolz in eine Trümmerlandschaft

 18.12.2025

Berlin

Ehrung von Holocaust-Überlebenden

Die »International Holocaust Survivors Night« ehrt jedes Jahr Überlebende der Schoah. Die virtuelle Veranstaltung hat sich inzwischen zu einer Feier entwickelt, an der Teilnehmende aus fast 20 Ländern mitwirken

 18.12.2025

Sydney

Abschied von jüngstem und ältestem Opfer

Ganz Australien trauert: Die 10-jährige Matilda und der 87-jährige Holocaust-Überlebende Alex Kleytman sind beerdigt worden

 18.12.2025