Porträt

Die Krankenschwester und der Urwalddoktor

Gemeinsam für ein Lebenswerk: Albert Schweitzer (1875–1965) und Helene Schweitzer Bresslau (1879–1957) im Jahr 1913 Foto: picture alliance / Courtesy Everett Collection

Porträt

Die Krankenschwester und der Urwalddoktor

Vor 150 Jahren wurde Albert Schweitzer geboren. An seiner Seite wirkte seine Frau Helene Schweitzer Bresslau – eine Heldin, die oft vergessen wird

von Anja Bochtler  15.01.2025 15:59 Uhr

Im Mittelpunkt steht immer nur ihr Mann: Albert Schweitzer, die Ikone der Nächstenliebe. Der Philosoph, Theologe, Organist, Friedensnobelpreisträger und Arzt wurde vor 150 Jahren geboren und weltbekannt durch sein Lebenswerk: die Krankenstation, die er in Lambarene im afrikanischen Gabun aufbaute. Selten wird darüber gesprochen, welche Rolle seine Frau, Helene Schweitzer Bresslau, für ihn und sein Lebenswerk spielte

Was ist bekannt über diese Frau, die 1879 als Kind einer jüdischen Berliner Familie geboren wurde, mit sieben Jahren evangelisch getauft wurde und ein in vielerlei Hinsicht ungewöhnliches Leben führte? Ausführlich eingetaucht in dieses nicht einfache Leben ist die Münchner Ärztin und Autorin Verena Mühlstein. Ihre Biografie über Helene Schweitzer Bresslau erschien kürzlich in vierter Auflage im Verlag C.H. Beck (Helene Schweitzer Bresslau. Ein Leben für Lambarene).

Zurückhaltend, unnahbar, willensstark, standesbewusst

Im Luftkurort Königsfeld im Schwarzwald, wo sie jahrzehntelang lebte, ist Helene Schweitzer Bresslau bis heute sehr präsent. Zurückhaltend, unnahbar, willensstark, standesbewusst: So beschrieben sie vor einiger Zeit in einem sogenannten Erzählcafé die wenigen, die heute noch leben und sie persönlich kannten. Organisiert hatte das Erzählcafé Wolfgang Schaible, der Vorsitzende des Historischen Vereins in Königsfeld, der auch das örtliche Albert-Schweitzer-Haus betreut.

Manche finden, es sollte in Helene-Schweitzer-Haus umbenannt werden, berichtet Schaible. Doch es sei klar, dass die meisten Touristen und Kurgäste vor allem der große Name Albert Schweitzer anziehe, obwohl er heute aufgrund von Kolonialismus- und Rassismusvorwürfen nicht mehr unumstritten sei. »Er war ein Kind seiner Zeit. Doch für diese Zeit war er sehr progressiv und sah den Menschen als Menschen«, sagt Schaible.

Nach der ersten Begegnung 1898 vergehen drei Jahre, bis sich die beiden wiedersehen.

Ungewöhnlich für die Epoche, in der Albert und Helene Schweitzer lebten, war ihre Beziehung, die Verena Mühlstein in ihrem Buch beschreibt: Nach der ersten Begegnung 1898 bei einer Hochzeitfeier vergehen drei Jahre, bis sich die beiden wiedersehen. Und danach ziehen noch einmal Jahre ins Land, bis sie 1912 heiraten.

Die beiden verbindet, dass sie einen tiefen Lebenssinn suchen, ein Lebenswerk, das anderen Menschen hilft. Helene Schweitzer Bresslau, betont Mühlstein, habe als Einzige von Anfang an verstanden, warum sich Albert mit 30 Jahren gegen seine vielversprechende wissenschaftliche Karriere als Theologe und Philosoph und stattdessen für ein Medizinstudium entschied, um als Missionsarzt arbeiten zu können.

Sein Lebenswerk stand für ihn an erster Stelle – lange war er überzeugt, dass für ihn keine Ehe infrage komme. Helene Schweitzer Bresslau als unverheiratete junge Frau, die engen Kontakt mit ihm hatte, befand sich dadurch in einer schwierigen Rolle. Zwar habe sie sich ein Leben als berufstätige, alleinlebende Frau vorstellen können, doch störte es sie, dass Albert sie eine Zeit lang drängte zu heiraten – einen anderen.

Vielseitig interessiert, begabt und ehrgeizig: Mit diesen Eigenschaften hatte es Helene nicht immer leicht. Vor ihrer Ehe hatte sie vieles ausprobiert und nach ihrem Platz im Leben gesucht.

Die Familie bemüht sich sehr um Assimilierung

Sie wird 1879 als eines von drei Kindern des Geschichtsprofessors Harry Bresslau geboren. Die Familie bemüht sich sehr um Assimilierung. Harry Bresslau ist tief gekränkt von den Diskriminierungen, mit denen er als Jude konfrontiert wird. Mit seiner öffentlichen Stellungnahme »Zur Judenfrage« protestiert er 1879 gegen den Artikel »Unsere Aussichten« des damals angesehenen Historikers Heinrich von Treitschke, der die jüdische Bevölkerung mit den typischen antisemitischen Klischees zur vermeintlichen Gefahr stilisiert.

Um seinen Kindern das Leben zu erleichtern, lässt Harry Bresslau sie evangelisch taufen. Im Frühling 1890 ziehen die Bresslaus ins damals zum deutschen Reich gehörende Straßburg, wo die Atmosphäre liberaler ist. Harry Bresslau wird dort 1904 als erster Jude in Deutschland Rektor einer Universität.

Es ist nicht selbstverständlich für die damalige Zeit, dass seine Tochter Helene eine Ausbildung zur Lehrerin macht, Kunstgeschichte studiert und schließlich in die Sozialarbeit einsteigt. Als Waisenpflegerin und -inspektorin kann sie die hohe Säuglingssterblichkeit stark verringern und eröffnet ein Mütterheim.

Ähnlich wie Albert Schweitzer durchlebt sie größere Krisen und Zusammenbrüche auf der Suche nach ihrem Lebenssinn. Im Gegensatz zu ihm leidet sie zudem unter gesundheitlichen Problemen – schon als zehnjähriges Kind war sie an einer feuchten Rippenfellentzündung erkrankt, die vermutlich tuberkulös bedingt war.

Weil sie gesundheitlich angeschlagen war, konnte sie nicht dauerhaft in den Tropen leben.

Jahrelang unterstützen sich Albert und Helene bei der Suche nach ihrer Lebensaufgabe. Als sich herauskristallisiert, dass Albert Schweitzer als Missionsarzt eine Krankenstation aufbauen wird, regeln sich auch die anderen offenen Fragen: Die beiden entscheiden sich nun doch zur Heirat – vermutlich auch deshalb, weil Albert als unverheirateter Mann nicht Missionsarzt hätte sein können.

Helene Schweitzer lässt sich zur Krankenschwester ausbilden, um ihn begleiten zu können. Doch schon vor der ersten Abreise nach Lambarene im März 1913 wird alles durch ihren Gesundheitszustand infrage gestellt: Sie hat sich mit Tuberkulose infiziert. Sie erholt sich nach einigen Monaten, fortan wird ihr Leben aber von immer wiederkehrenden Phasen der Erkrankung geprägt sein.

Lebensbedrohliche Zustände und monatelange Aufenthalte in Sanatorien

Deshalb kann Helene Schweitzer Bresslau ihren Traum höchstens ansatzweise umsetzen: Gewünscht hatte sie sich ein dauerhaftes Leben in Lambarene mit ihrem Mann. Weil es ihr oft schlecht geht, bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen und monatelangen Aufenthalten in Sanatorien, muss sie fast die ganze Zeit, die ihr Mann in den Tropen verbringt, in Europa allein ausharren – meist im Schwarzwald, im 1923 gebauten Haus in Königsfeld.

Verena Mühlstein schildert, wie Helene Schweitzer Bresslau gequält wird von Einsamkeit und Depressionen. Damit hänge vermutlich auch zusammen, dass viele in Königsfeld sie als »herrisch« und »sehr speziell« erlebt hätten, glaubt Ruth Schätzle-Schneider vom Albert-Schweitzer-Haus. Hinzu kommt die Kluft zwischen ihr, der geborenen Berlinerin und Tochter eines Universitätsrektors, und der Schwarzwälder Bevölkerung.

Helene Schweitzer sei letztlich in Königsfeld »abgestellt« worden, während ihr Mann »sein Ding durchzog«, sagt Wolfgang Schaible. Dass sie trotz ihres Haderns immer zu ihm gehalten habe, verdiene Hochachtung.

Auch von der gemeinsamen Tochter Rhena, die 1919 geboren wurde, ist sie oft getrennt: Wegen der wiederkehrenden offenen Tuberkulose, die Helene Schweitzer Bresslau – vermutlich aus Angst vor Diskriminierung – gegenüber ihrem Umfeld verheimlicht, wächst das Mädchen isoliert auf. Die meiste Zeit sei Rhena im Internat gewesen, wo sie sich am wohlsten gefühlt habe, sagt Ruth Schätzle-Schneider. Von ihrem Vater in Lambarene hätte sie noch deutlich weniger gehabt als von der Mutter. Rhena heiratet früh und bekommt vier Kinder.

Jahrelang unterstützen sich Albert und Helene bei der Suche nach ihrer Lebensaufgabe.

Die politischen Entwicklungen prägen das Leben der Schweitzers stark: Als 1914 der Erste Weltkrieg beginnt, werden Albert und Helene Schweitzer von Lambarene in französische Kriegsgefangenenlager gebracht, wo beide krank werden.

Da das Elsass nun französisch wird, muss die Familie Bresslau Straßburg verlassen – Helene verliert ihre alte Heimat. 13 Jahre später ein weiterer Verlust: Als 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kommen, bricht sie ihre Kur in einer Berliner Klinik ab und flüchtet mit Rhena in die Schweiz. Es folgen Vortragsreisen, unter anderem in die USA, bei denen Helene Schweitzer die Arbeit in Lambarene vorstellt. Auf diese Weise sichert sie die Finanzierung der Krankenstation und unterstützt ihren Mann aus der Ferne.

Im zweiten Kriegsjahr 1940 ist Helene mit ihrer Tochter, deren Mann und den Enkeln in Frankreich auf der Flucht. Im Jahr darauf reist sie nach Lambarene und sieht nach langer Zeit ihren Mann wieder, der sich unbeirrt seinem Lebensprojekt widmet.

In den Nachkriegsjahren wechseln sich bis 1955 gemeinsame Reisen – unter anderem 1954 zur Verleihung des Friedensnobelpreises an Albert Schweitzer in Oslo –, Aufenthalte in Lambarene und Trennungen mit Erholungszeiten für Helene Schweitzer Bresslau ab.

Mit Albert Schweitzer in Lambarene

Von Dezember 1955 bis Ende Mai 1957 gelingt ihr, was sie sich für ihr ganzes Leben gewünscht hätte: Sie ist trotz ihres schlechten Gesundheitszustands mit Albert Schweitzer in Lambarene. Als es ihr zunehmend schlechter geht, möchte sie ihre Tochter und ihre Enkel noch einmal sehen. Ohne ihren Mann reist sie zurück nach Europa – und stirbt am 1. Juni 1957 im Alter von 78 Jahren in Zürich. Sie wird in der Nähe des Krankenhauses in Lambarene beigesetzt, wo ihr Ehemann acht Jahre später neben ihr seine letzte Ruhe findet.

Aus Helene Schweitzers Briefen und Tagebüchern lässt sich schließen, dass sie ihr Leben zwar nicht als leicht, aber trotz allen Entbehrungen als »reich und sinnvoll« empfunden hat. Obwohl sie öffentlich kaum wahrgenommen wurde, sei ihr bewusst gewesen, dass sie als Albert Schweitzers Gefährtin einen wichtigen Anteil an dessen Arbeit hatte. Ohne diesen Beitrag wäre das Lebenswerk des berühmten Urwalddoktors nicht denkbar gewesen.

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