Russland

Die Freiheit und ihr Preis

Dass Juden gefangen genommen wurden, um Lösegeld zu erpressen, ist ein uraltes Problem – es existierte schon zur Zeit des Talmuds. Die Rabbiner haben lange Diskussionen darüber geführt, wie damit umzugehen sei. Einerseits: Die Kidnapper bezahlen – ja, unbedingt! Jedes Menschenleben ist kostbar. Wenn eine jüdische Gemeinde einen ihrer Gefangenen freikauft, dann gilt es als Mizwa, als gute Tat, wenn jeder sein Scherflein beiträgt.

Andererseits: Zahlt bloß nicht zu viel! Genauer, zahlt nicht mehr, als der Freigekaufte an Erlös bringen würde, wenn er oder sie auf dem Sklavenmarkt verhökert würde. Schließlich sollen jüdische Gemeinden sich nicht ruinieren. Außerdem will man die Kidnapper ja nicht geradezu ermutigen, noch mehr Juden zu kaschen und dadurch Geld zu verdienen. Aber was, wenn die Gekidnappte die eigene Tochter ist? Die Ehefrau? Würde man dann nicht auch als frommer Jude einen exorbitanten Preis zahlen, um die Entführte wieder im Arm halten und mit Küssen bedecken zu dürfen?

Keine pazifistischen Turteltauben, sondern Mörder

In unserer Zeit erhalten solch uralte Diskussionen eine finstere Aktualität. Wie viele palästinensische Terroristen soll, wie viele kann und darf Israel freilassen, um die Hamas-Morlocks zu bewegen, dass sie die Geiseln freilassen, die sie in ihre Tunnel verschleppt haben? Schließlich sind diejenigen, die Israel da laufen lässt, keine pazifistischen Turteltauben, sondern Mörder, die bestimmt wieder zuschlagen werden, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Rettet man heute ein Menschenleben und verliert dafür morgen fünf?

Rabbi Schlomo Goren, der ehemalige aschkenasische Oberrabbiner von Israel, sprach sich einst unter Berufung auf die Halacha strikt gegen den Austausch von Gefangenen aus: Solche Deals, schrieb er, kosten zu viel, sie gefährden die israelische Öffentlichkeit. Rabbi Chaim David Halevy, der Oberrabbiner von Tel Aviv, widersprach. Das Rechtsgutachten von Schlomo Goren sei zwar den Buchstaben nach korrekt. Aber halachische Regeln, die einst aufgestellt wurden, um mit Räuberbanden umzugehen, die durch das Kidnappen von Juden Geld scheffelten, könnten nicht für palästinensische Terroristen gelten, denen jegliche Geschäftslogik fremd sei. Die palästinensischen Terroristen würden ohnehin Juden umbringen, so Rabbi Halevy. Sie würden durch Gefangenendeals nicht angestachelt, noch mehr Juden zu töten.

Es ist eine bittere Ironie, dass Evan Gershkovich zu einer russischen Geisel wurde

Damit wären wir bei Evan Gershkovich. Es ist eine bittere Ironie, dass dieser Mann zu einer russischen Geisel wurde: Seine Eltern waren sowjetische Juden, die vor der kommunistischen Diktatur geflüchtet waren, er wuchs als Kind der Freiheit in Princeton, New Jersey, auf. Dass er zum Gefangenen Putins wurde, liegt daran, dass bei ihm zu Hause Russisch gesprochen wurde: Als er Journalist geworden war, verstand sich beinahe von selbst, dass er über russische Themen schreiben und als Korrespondent arbeiten würde. Zuletzt tat er das für das »Wall Street Journal«. Er hatte sechs Jahre lang in Russland gelebt, als er im März vergangenen Jahres in Jekaterinburg vom russischen Geheimdienst verhaftet wurde.

Dass Evan Gershkovich als Spion angeklagt wurde, ist eine durchsichtige Farce. Das Urteil, das ein russisches Gericht fällte – 16 Jahre wegen Spionage! –, war ein bitterer Witz. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Brüllen gewesen wäre. Das einzige Verbrechen des Evan Gershkovich bestand darin, dass er wahrheitsgemäß über den Vernichtungskrieg geschrieben hatte, den die Russen gegen die unabhängige und demokratische Ukraine führen.

Wladimir Putin hätte Gershkovichs Artikel besser lesen sollen

In Jekaterinburg hielt er sich zur Zeit seiner Verhaftung deshalb auf, weil er über die Söldnerbande »Wagner« recherchierte. Statt Evan Gershkovich verhaften zu lassen, hätte Wladimir Putin seine Artikel besser lesen sollen. Durch sie hätte er ein realistisches Bild davon erhalten, wie sein Krieg in der Ukraine für ihn läuft: schlecht. Mit all ihren Verbrechen, mit ihren Massakern, Vergewaltigungen – auch von Kindern – und Kindesentführungen sind die Russen ihrem Kriegsziel keinen Zentimeter nähergerückt: Sie haben die Ukraine nicht unterworfen. Und solange der Westen der Ukraine mit Waffen hilft, werden die Russen dieses Land auch nicht unterwerfen.

Evan Gershkovich saß nicht deshalb in einem russischen Gefängnis, weil er Jude ist. Aber sein Fall wirft die oben angesprochene alte jüdische Frage auf: Welchen Preis sind wir bereit, für seine Freilassung zu zahlen? War es okay, Wadim Krassikow, der in Berlin am helllichten Tag einem Menschen dreimal von hinten in Kopf und Rücken geschossen hat, in ein Flugzeug nach Moskau zu setzen, weil Putins Regime Gershkovich im Gegenzug gehen ließ? War es okay, auch noch ein paar andere russische Spione abzuschieben?

Die Antwort lautet natürlich ja, auch wenn es schmerzt, dass die Verbrecher ihrer Strafe entgehen. Mit solchen Ungerechtigkeiten leben wir, seit es den Krieg, die Politik und Nationalstaaten gibt.

Doch ein Preis für die Freilassung von Evan Gershkovich ist eindeutig zu hoch: die Wahrheit. Niemand soll so tun, als sei Evan Gershkovich ein westlicher Agent. Er hat nichts Unrechtes getan, sondern seinen Job als Journalist gemacht. Dass er gegen einen Mörder ausgetauscht wurde, liegt daran, dass Putins Regime auf Mord basiert.

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