Josef Zissels

»Die ergriffenen Maßnahmen reichen nicht«

Josef Zissels
Josef Zissels Foto: imago images/Uwe Steinert

Josef Zissels

»Die ergriffenen Maßnahmen reichen nicht«

Der Verbandspräsident über Hilfe, Solidarität und eine mögliche Evakuierung der jüdischen Gemeinde

von Vyacheslav Likhachev  24.02.2022 06:01 Uhr

Herr Zissels, planen Sie angesichts der aktuellen Entwicklungen eine Evakuierung der jüdischen Gemeinde der Ukraine – bevor es zu spät ist?
Natürlich nicht! Wir, die ukrainischen Juden, fühlen uns – und wir sind es tatsächlich – als Bestandteil der ukrainischen Gesellschaft. Wir sind bereit, alle Schwierigkeiten des Lebens und Kampfes mit dem ukrainischen Volk zu teilen.

Vaad, der jüdische Dachverband der Ukraine, vereint mehr als 250 Gemeinden. Worin besteht dieser Tage Ihre Aufgabe?
Es gilt, den Gemeinden bei der Umsetzung ihrer Aktivitäten zu helfen. In schwierigen Situationen wird diese Unterstützung noch mehr nachgefragt. Wir versuchen, das zu tun, was wir den Umständen entsprechend tun können. Wir erklären zuversichtlich, dass wir unsere Arbeit unter allen Umständen fortsetzen werden, entwickeln einen Plan für verschiedene Szenarien, einschließlich des schlimmsten.

Wie sieht das konkret aus?
Wir entwickeln Handlungsalgorithmen für eine Situation, in der Telefon und Internet nicht funktionieren, das Bankensystem zusammenbricht, es keinen Strom gibt. Wir legen Trinkwasser- und Nahrungsmittelreserven an, werden Stromgeneratoren und Treibstoff kaufen. Und wir versuchen, alle uns zur Verfügung stehenden Fahrzeuge zu mobilisieren.

Wie werden Sie Ihre Aktivitäten auch im Falle der möglichen Besetzung eines großen Territoriums fortsetzen können?
Aus Putins Ansprache wissen wir, dass er die ukrainischen Nichtregierungsorganisationen als Quelle des Widerstands sieht. Im schlimmsten Fall werden wir sicherlich stark unter Druck geraten. Dennoch brauchen Menschen und lokale Gemeinschaften gerade unter solchen Umständen zuerst Hilfe. Dies ist nicht das erste Mal, dass wir mit einem Krieg konfrontiert sind, der von unserem aggressiven Nachbarn entfesselt wurde.

Und heute – halten Sie die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die russische Bedrohung der Ukraine für angemessen?
Natürlich nicht. Wir sind den Ländern zutiefst dankbar, die die Ukraine unterstützen – finanziell, technisch, politisch. Aber wir sehen: Die ergriffenen Maßnahmen reichen nicht aus, um den Angreifer zu stoppen. Der Kreml eskaliert ständig die Spannungen. In dieser Situation muss der Westen ein klares Zeichen für ein einheitliches und koordiniertes Vorgehen setzen. Es gibt zwei offensichtliche Richtungen: schmerzhafte Sanktionen gegen Russland und die Unterstützung der Ukraine bei der Stärkung ihrer Verteidigungsfähigkeit. Ich frage mich: Warum erwägt Europa nicht die Möglichkeit, Russland vom SWIFT-Banküberweisungssystem zu trennen? Und warum verhindert Deutschland entgegen dem gesunden Menschenverstand die Lieferung von Verteidigungswaffen an die Ukraine?

Was mag der Grund dafür sein?
Viele Experten sagen, dass Deutschland wegen des Zweiten Weltkriegs so etwas wie eine historische Schuld gegenüber Russland empfindet. Es ist jedoch absurd, das moderne Russland mit der Sowjetunion der Mitte des 20. Jahrhunderts gleichzusetzen. Die historische Wahrheit ist, dass während des Krieges die Gebiete und die Bevölkerung von Ukraine und Weißrussland die meisten menschlichen Opfer und materiellen Schäden erlitten haben, und nicht Russland. Deutschlands Verantwortung gegenüber der Ukraine sollte größer sein. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte Deutschland einfach zu viel Respekt vor der russischen Stärke. Dies widerspricht den europäischen Werten Humanismus und Solidarität, aber ich fürchte, dass dies die Realität ist. In dieser Situation können wir nur selbst stark werden. Wir lernen daraus, dass wir uns am Ende auf niemanden verlassen können außer auf uns selbst.

Mit dem Präsidenten des Verbands der jüdischen Gemeinden und Organisationen der Ukraine (Vaad) sprach Vyacheslav Likhachev.

Bereit fürs ICZ-Präsidium: Noëmi van Gelder, Arthur Braunschweig und Edi Rosenstein (v.l.n.r.)

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