Italien

Die Eliten versagen

20 Stolpersteine, die vor wenigen Wochen auf der Via Madonna dei Monti in Rom gestohlen wurden, werden neu verlegt. Foto: imago/Pacific Press Agency

Der neue Jahresbericht der Beobachtungsstelle für Antisemitismus der Fondazione Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea (CDEC), eines jüdischen Dokumentationszentrums in Mailand, zeigt: Die Feindschaft gegen Juden wird in Italien zunehmend zum Problem. So erfasst die jüngste Statistik insgesamt 197 als antisemitisch eingestufte Vorfälle. Doch dürfte das angesichts der hohen Dunkelziffer wohl nur die Spitze des Eisbergs sein, so die Experten. Aber auch so ist die Entwicklung schon erschreckend. 2017 registrierte man gegenüber dem Vorjahr einen Anstieg der Vorfälle um satte 60 Prozent. 131 davon geschehen im Internet, knapp 50 Prozent allein auf Facebook. Darüber hinaus erschienen 49 neue antisemitische Bücher, fast alle hatten einen rechtsextremen Hintergrund.

Öffentlichkeit Die Inhalte sind re­dundant. Alles dreht sich um Schoa-Leugnung und Antizionismus, wobei es an Verschwörungstheorien nicht mangelt. Zugleich kommt darin ein weitverbreitetes Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen zum Ausdruck, was wiederum das politische und gesellschaftliche Klima in Italien widerspiegelt. Wie Raffaele Besso, Vizepräsident der jüdischen Gemeinde in Mailand, erklärt, hat aus seiner Sicht vor allem der wirtschaftliche Abschwung der vergangenen Jahre viel dazu beigetragen. »Die Öffentlichkeit begreift Antifaschismus immer weniger als einen Wert. Zudem haben die Diskussionen um Zuwanderung und Flüchtlinge nicht nur zu Spannungen geführt, sondern viele Menschen auch weitaus weniger empathiefähig gemacht.«

Auch in der Politik ist der Antisemitismus omnipräsent.

Die Vorfälle häufen sich. So wurden am 7. Januar 2019 zwei Journalisten des »L’Espresso« attackiert und mit dem Tode bedroht, als sie über eine Demonstration der Avanguardia Nazionale, einer seit den 70er-Jahren verbotenen rechtsextremen Gruppierung, berichten wollten, die auf dem römischen Friedhof Il Verano stattfand.

Hakenkreuz Wenige Tage später erhielt Enrico Mentana, Direktor des Senders La7 und selbst Jude, einen mit Hakenkreuz versehenen Drohbrief, in dem sieben Journalisten namentlich angegriffen wurden, weil sie Kritik an der Regierung geübt hätten. Und am 17. Januar 2019 wurde Alessandra Veronese, Professorin für Mittelalterliche und Jüdische Geschichte an der Universität von Pisa, in Rom mehrfach von einem Mann angespuckt.

Wie sie auf Facebook anschließend berichtete, hatte der Angreifer, der übrigens am Arm mit einem Hakenkreuz tätowiert war, sie wohl für eine Jüdin gehalten, weil sie eine Tasche mit einer jiddischen Aufschrift trug. »So widerlich kann Antisemitismus sein«, postete sie und stellte Strafanzeige. Der Akademische Rat ihrer Universität solidarisierte sich mit ihr und brachte »seine Sorge und Empörung über den Vorfall« zum Ausdruck.

Tendenz Doch auch in der Politik ist der Antisemitismus omnipräsent. So twitterte am 20. Januar 2019 Elio Lannutti, Senator der Fünf-Sterne-Bewegung, dass »die Weisen von Zion und Mayer Amschel Rothschild, der kluge Gründer der Dynastie, noch heute das internationale Bankensystem kontrollieren«, und verlinkte eine antisemitische Internetseite gleich mit.

Zwar distanzierte sich sein Parteikollege und stellvertretender Ministerpräsident Luigi Di Maio sofort von Lannutti und verwarnte ihn; doch offensichtlich war dessen antisemitischer Tweet kein Einzelfall, wie sich bald herausstellte. Inzwischen hat die jüdische Gemeinde von Rom Strafanzeige gegen den Senator erstattet und eine Unterschriftenkampagne initiiert. Für Besso ist das alles keine Überraschung. »In der Fünf-Sterne-Bewegung gab es von Anfang an antisemitische Tendenzen«, erklärt er. »Genau deshalb musste der einzige Jude, der an dem Medien- und Beratungsunternehmen Casaleggio Associati beteiligt war, das der Gruppierung nahesteht, gehen.«

Israel Die Lega, die andere Regierungspartei, der Innenminister Matteo Salvini vorsteht, ist nicht viel besser, glaubt Besso. Eher im Gegenteil. »Dort ist man mit der neofaschistischen Casa Pound verbandelt. Die Tatsache, dass man vorgibt, Israel nahe zu sein, ändert wenig an dem Problem.« Als Beleg für das Verschwinden jeglicher moralischer Hemmungen führt er den Lega-Kommunalpolitiker Manuel Laurora an, der bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der Schoa in Pisa demonstrativ sitzen blieb.

Am 30. Januar ereignete sich ein weiterer Vorfall, diesmal in Reggio Calabria. Der Forza-Italia-Abgeordnete Lucio Dattola wurde gefilmt, wie er einen namentlichen Aufruf mit dem faschistischen »Römischen Gruß« beantwortete. Emanuele Fiano, Sohn eines Schoa-Überlebenden und Abgeordneter der Demokratischen Partei, schrieb daraufhin auf Facebook: »Schluss damit! Wir dürfen Verletzungen unserer antifaschistischen Verfassung nicht länger tolerieren.«

Regelmäßig werden die Grenzen des Erlaubten überschritten.

Auch die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Rom, Ruth Dureghello, betont: »Es ist offensichtlich, dass sich hier eine Hasskultur verbreitet.« Regelmäßig werden die Grenzen des Erlaubten und Zulässigen überschritten, um zu testen, wie weit man gehen kann. »Wir sehen zwar, dass der Staat sich bemüht, dem entgegenzuwirken«, betont sie. »Aber wir brauchen konkrete Maßnahmen sowie klare Definitionen, damit keine Grauzonen entstehen können, in denen Hass oder die Verharmlosung von Antisemitismus irgendwie möglich sind.«

Verantwortung Als kürzlich in Rom 20 Stolpersteine gestohlen wurden, erfuhr die jüdische Gemeinde die Solidarität vieler Bürger der Ewigen Stadt. An sie richtete Ruth Dureghello ihren Dank. Sie hoffe sehr, dass ihre Aufmerksamkeit niemals nachlassen und ihr Verantwortungsgefühl stark bleiben möge. Sogar Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella warnte anlässlich des Holocaust-Gedenktags vor »dem Bösen, das wie ein tödlicher Virus in den Gesellschaften schlummert«.

Und eine aktuelle Umfrage der Beobachtungsstelle für Antisemitismus unter rund 800 Personen brachte zutage, dass nur 20 Prozent glauben, in Italien gebe es keinen Antisemitismus. 37 Prozent hielten das Ganze für übertrieben, und 39 Prozent bejahten, dass Judenfeindschaft irgendwie existiert. Lediglich vier Prozent sahen darin ein ernstes Problem.

»Ich spüre die Verschlechterung des politischen Klimas sehr deutlich«, so der Kommentar der Regisseurin Andrée Ruth Shammah. »Israel wird für mich daher immer mehr zu einer Option.« Besso hingegen bleibt gelassener: »Im Vergleich zu anderen Ländern können wir uns glücklich schätzen. Bis dato gab es keine Gewalt – jedenfalls noch nicht.

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