Russland

Die Angst vor den Worten

Will durch ihre Offenheit niemanden gefährden, schon gar nicht Familienangehörige: Alla Gerber Foto: Polina Kantor

Als die Tür aufgeht, eröffnet sich der Blick auf ein sonnendurchflutetes Wohnzimmer. Zu hören ist zunächst nur eine Stimme, dann steht Alla Gerber unvermittelt im Raum. Während sie geschäftig Tee und Pralinen auf den Tisch stellt, kommt sie schnell zur Sache. Vor Kurzem sei ein Text über sie in einem Moskauer Online-Magazin erschienen. Sie habe sich um eine positive Atmosphäre bemüht, um ihr Moskau in einem guten Licht erscheinen zu lassen.

Honoriert wurde ihr Anliegen nicht. Statt Wertschätzung und aufrichtigem Interesse seien unter dem Artikel haufenweise antisemitische Kommentare erschienen. Das hätten ihr Bekannte berichtet. Alla Gerber brachte es nicht über sich, die Reaktionen durchzulesen. Wozu auch? Unverständnis und ein Anflug von Zorn schwingen mit, als sie von dem Vorfall erzählt.

Alla Gerber ist Moskauerin durch und durch. In dieser Stadt wurde sie geboren, hier wuchs sie auf, hier erkämpfte sie sich ihren Platz – als Filmkritikerin, Journalistin, Publizistin und öffentliche Stimme. Anerkennung fand sie als unerschrockene Kämpferin gegen Antisemitismus, unermüdlich stellte sie sich allen Widerständen entgegen. Hier hat sie in jungen Jahren ihren Mann verloren. Hier hat sie über neun Jahrzehnte hinweg gute und schlechte Zeiten durchlebt.

»Nicht so laut, nicht am Telefon« – diese Worte prägen sich fest ins Gedächtnis ein.

Jetzt sind definitiv schlechte Zeiten. Daran ändert auch das sprudelnde Leben in den Theatern, Restaurants und Cafés nichts. Die Leute seien regelrecht trunken vom Leben, hält Gerber nüchtern fest. »Jeder versucht, nicht nachzudenken, oder gibt sich Mühe, nicht nachzudenken.« Vielleicht hätten die Menschen das alltägliche Sterben einfach vergessen.

Kulturell und literarisch gebildete Hauptstädterin und Grande Dame

Auch sie geht ins Theater, wie sie es als kulturell und literarisch gebildete Hauptstädterin und Grande Dame immer getan hat. »Ich bemühe mich darum weiterzuleben«, sagt sie und gesteht zugleich, wie schwer es ihr fällt. Kein Tag vergeht, ohne dass sie die Nachrichten aufmerksam verfolgt – und doch vergeht auch kein Tag ohne die lähmende Angst, die so viele Menschen in ihrem Umfeld davon abhält, laut auszusprechen, was dennoch unausweichlich bleibt. »Nicht so laut, nicht am Telefon« – diese Worte prägen sich fest ins Gedächtnis ein.

Wie in der Sowjetunion möchte man meinen. »Nein, das ist etwas ganz anderes und doch überhaupt nicht anders«, widerspricht Gerber. Die Angst vor dem gesprochenen Wort und dem für andere hörbar formulierten Gedanken sei dieselbe. Aber im Hier und Jetzt zu leben, unterscheide sich eben doch in wesentlichen Punkten vom Leben in der vom Stalinismus aufgeriebenen Sowjetgesellschaft.

Damals habe man sich von dem Gefühl leiten lassen, dass jederzeit die Festnahme erfolgen könne. Heute sei das nicht so, trotz der vielen Verhaftungen. Kleine Fenster zur Welt stehen offen, auf Umwegen reisen die Menschen in andere Länder. Damals war diese Option verschlossen. Und trotz Blockierung zahlreicher Websites bleibt auch das Internet als unabhängige Informationsquelle bestehen.

Maßregelung, Repression und Denunziationspraktiken

Mit dem im Spätstalinismus gängigen Arsenal an Maßregelung, Repression und Denunziationspraktiken ist Alla Gerber nur zu gut vertraut. Ihre Mutter und die Großmutter mütterlicherseits stammen aus Kyjiw, väterlicherseits hat sie Wurzeln in Odessa. Eine assimilierte jüdische Familie – Anlass genug für an den Haaren herbeigezogene Anschuldigungen. Vor dem Krieg bewohnten sie zwei Zimmer in einer Kommunalwohnung, nach der Evakuierung stand ihnen nur noch das kleinere zur Verfügung.

Dafür hatte der Hauswart gesorgt. Weil ihr Vater sich für die Rückgabe einsetzte, machte sich der Hauswart den staatlich verordneten Antisemitismus zunutze. Es ist die Zeit der Verfolgung jüdischer Ärzte und des Jüdischen Antifaschistischen Komitees. 1949 wird der Vater als vermeintlicher Agent Israels zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, 1956 rehabilitiert.

Angst empfindet Alla Gerber trotz ihrer Familiengeschichte keine. Ihre Sorge gilt dem Sohn und den Enkelkindern. Sie will durch ihre Offenheit niemanden gefährden, schon gar nicht Familienangehörige und am allerwenigsten die Jüngsten unter ihnen, die ihr Leben noch vor sich haben. Ihr künstlerisch veranlagter Enkel habe zwar versucht, im Ausland Fuß zu fassen, sagt sie, doch sei er zurückgekehrt.

»Meine Heimat ist die russische Sprache – in dieser Sprache schweige ich, weine ich, lache und träume ich«

Russland zu verlassen, wie so viele andere, kam ihr nicht ernsthaft in den Sinn. Es wäre ein Leichtes gewesen, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, sich in Israel niederzulassen, und doch sei es ein Ding der Unmöglichkeit. Im Herbst 2023 fand sie in einem Videointerview dafür eine simple und einprägsame Formel: »Meine Heimat ist die russische Sprache – in dieser Sprache schweige ich, weine ich, lache und träume ich.«

Sprache bedeutet Leben. Hebräisch, das sie nicht beherrscht, würde ihr die Lebensgrundlage rauben, bei aller innigen Liebe zu Israel und den dort lebenden Menschen. Aber Israel ist eben nicht ihr Land. Dabei vergisst sie nicht, auf die wunderschönen Blumen auf einem Beistelltisch hinzuweisen – ein Geschenk aus Israel.

Dass Alla Gerber ihrer Heimatstadt auch nach dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine die Treue hält, liegt wohl nicht zuletzt an ihrem hohen Alter. Allein der organisatorische Aufwand für die Verlegung des Wohnortes wäre ein gewisser Kraftakt, aber es geht schließlich nicht allein um einen Adresswechsel. »Ich muss einfach Teil der Gesellschaft sein und mit ihr interagieren«, legt sie dar. Und umgekehrt. Mit Romantik habe das nichts zu tun, sondern mit ihrem Verständnis vom Aktivsein – immer am Puls der Zeit, mit Menschen an den unterschiedlichsten Orten in Kontakt treten. Mit 93 Jahren geht das nur noch eingeschränkt, aber es geht. »Leben heißt Handeln, dazugehören, sich auf die ein oder andere Weise zu erklären und Nutzen zu bringen – sogar sich selbst«, so Gerber.

Im Mai erschien ihr Buch »Stagnation. Perestroika. Kino«

Im Mai erschien ihr Buch Stagnation. Perestroika. Kino – eine neu bearbeitete Sammlung ihrer publizistischen Arbeiten, angereichert mit kurzen Rückblicken aus heutiger Perspektive. Viele der von ihr besprochenen Filme erzählten vom Erwachsenwerden – vom Versuch, dem gesellschaftlichen Erwartungsdruck standzuhalten, ohne sich selbst zu verleugnen. Heute jedoch, meint sie, seien Teenager dem staatlich gesteuerten Bildungsapparat ausgeliefert, dessen Pädagogen oft so orientierungslos wirkten, dass sie kaum noch zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden wüssten.

Vorträge und Gespräche mit Lehrkräften sind seit drei Jahrzehnten fester Bestandteil von Alla Gerbers Wirken als Co-Vorsitzende des Moskauer Holocaustzentrums, das sich der Forschung und Aufklärung verschrieben hat. Ihr Part ist es, zu erläutern, wie es zum Massenmord an den europäischen Juden kommen konnte. Als sie von einer ihrer jüngsten Seminarbegegnungen berichtet, klingt es wie das ferne Läuten von Alarmglocken, das mit ihrer zunehmenden Sprechgeschwindigkeit lauter wird. Sie habe, sagt sie, lediglich Grundsätzliches betont: die Bedeutung der Meinungsfreiheit und eines offenen Umgangs mit Schülern. »Im Anschluss kamen sie auf mich zu und haben mich über den grünen Klee gelobt, weil ich so mutig sei – aber worin, bitte schön, besteht mein mutiges Auftreten?«

Unter Michail Gorbatschow sei es seinerzeit mehr schlecht als recht gelungen, einen demokratischen Weg einzuschlagen. Strauchelnd und humpelnd ging es auf einem schmalen Pfad voran. Mit der Perestroika lockerten sich in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre Restriktionen. Offen zu sagen, was man denkt, war plötzlich kein Verbrechen mehr. Davon machten alle Gebrauch, einschließlich der allgegenwärtigen antisemitischen Pamjat-Bewegung.

Sie zählte damals zu den Gründungsmitgliedern der unabhängigen Schriftstellerbewegung »April«

Alla Gerber zählte damals zu den Gründungsmitgliedern der unabhängigen Schriftstellerbewegung »April«, die die Perestroika begrüßte. 1990 kam es im »Haus der Schriftsteller« zu einem antisemitischen Zwischenfall, den rechte Gruppen als »Provokation« abtaten. Gemeinsam mit ihren Mistreitern unternahm Gerber daraufhin rechtliche Schritte. Noch im Frühjahr wurde Konstantin Smirnow-Os­taschwili, Leiter einer der in der Pamjat-Bewegung vereinigten Gruppen, zu zwei Jahren Haft verurteilt, die er nicht überlebte. Warum, blieb ungeklärt. Jedenfalls sollte der erste antifaschistische Prozess der Perestroika gleichzeitig der letzte sein.

Ende 1993 zog die durch ihre öffentlichen Auftritte bekannte Publizistin für die Partei »Russlands Demokratische Wahl« in die Duma ein – bei den ersten Parlamentswahlen des neuen postsowjetischen Zeitalters. Für den Parteigründer Jegor Gaidar, den Ökonomen und Architekten der russischen Marktwirtschaft, der nur vier Monate das Amt des Wirtschaftsministers innehatte, empfindet Alla Gerber bis heute Hochachtung.

Ihre eigene Rolle in den zwei Jahren im Parlament beurteilt sie nüchtern. »Ich war nie eine richtige Politikerin«, sagt sie über sich selbst – und schon gar keine Berufspolitikerin. Was sie damals betrieb, sei eher gesellschaftspolitisches Engagement gewesen. »Wenn man Ehrlichsein als Beruf begreift, dann war das mein Beruf: ehrlich zu sein – in allem, was ich tat.«

Als ihr Vater nach Jahren der Lagerhaft zurückkehrte, sagte er als Erstes: Le Chaim!

Ein Glück, dass sie in den 60er-Jahren als Korrespondentin der Zeitschrift »Junost« das ganze Land bereisen durfte – um auf die Zehntausenden Leserbriefe zu reagieren, die aus allen Ecken der Sowjetunion in der Moskauer Redaktion eintrafen. Oft waren es Zeugnisse tiefster Einsamkeit, nicht selten regelrechte Hilferufe.

Auswege aus allen Lebenslagen

Die Verfasser suchten nach Auswegen aus allen Lebenslagen, und Alla Gerber bot ihnen, was ihr am besten gelingt: im direkten Austausch mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und das Gehörte in publizistischer Form für eine breite Leserschaft aufzubereiten. Sie erinnert sich sichtlich gern an diese Erfahrungen, sogar der Tonfall in ihrer Stimme gewinnt zunehmend an Wärme. »Ich habe dort zu einem Zeitpunkt angefangen, als die Freiheit noch Funken sprühte«, so Gerber. Noch herrschte Tauwetter, bevor die politische und ökonomische Stagnation die gesamte Gesellschaft zu lähmen begann.

Die Teereste in den Tassen sind längst kalt geworden.

Als ihr Vater nach siebeneinhalb Jahren Lagerhaft nach Hause zurückkehrte, waren seine ersten Worte: Le Chaim! – Auf das Leben! Dieser Trinkspruch wurde auch zu ihrer eigenen Devise. Gerber hat sich ihren Optimismus nicht nehmen lassen, ebenso wenig den Glauben an eine demokratische Zukunft Russlands. Ob sie heute noch eine politische Stimme sei? »Ich habe schon sehr viel gesagt. Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.«

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