New York

Der Killer von nebenan

Festgenommen und wegen Mordes angeklagt: Levi Aron Foto: Reuters

Leiby Kletzky war ein kleiner chassidischer Junge, gerade mal acht Jahre alt, mit wehenden Schläfenlocken, dunklem Haar und einem Sattel von Sommersprossen auf der Nase. Am Montagnachmittag, dem 11. Juli, ging er von einem jener Ferienlager, in denen amerikanische Kinder oft ihre Sommer verbringen, nach Hause. Er sollte in Brooklyn unterwegs seine Mutter treffen, die sieben Häuserblocks weiter auf ihn wartete.

Dabei scheint der Junge falsch abgebogen zu sein. Er fragte einen Fremden auf der Straße nach dem Weg. Der Fremde, ein 35-jähriger Mann namens Levi Aron, der zwar kein Chassid, aber ein orthodoxer Jude war, bot ihm eine Fahrt im Auto an. Er fuhr mit dem Kind zu einer Hochzeit in Monsey, einem Städtchen im Norden von New York; abends nahm er ihn mit in seine Wohnung.

vermisst Die beiden sahen zusammen fern, dann gingen sie schlafen. Nach Aussage von Levi Aron schlief er dabei im einen Zimmer, der Junge im anderen. Am nächsten Morgen, so gab er zu Protokoll, habe er den Jungen zu seiner Familie fahren wollen. Aber als er überall Flugblätter sah, auf denen stand, der Junge sei vermisst, habe ihn Panik befallen.

»Ich hatte Angst, ihn nach Hause zu bringen«, sagte Levi Aron der Polizei. »Darum suchte ich nach einem Handtuch, um ihn in einem Nebenzimmer zu ersticken.« Als das Kind tot war, hatte er den nächsten Anfall von Panik. Was sollte er mit der Leiche tun? Er beschloss, sie zu zerstückeln.

Als die Polizei den Mann am Mittwoch um Mitternacht besuchte – sie hatte ihn und Leib Kletzky auf einem Überwachungsvideo gesehen – sah sie Blutspuren auf dem Gefrierschrank. Drinnen steckten Dinge, die aussahen wie Requisiten für einen Horrorfilm, aber allesamt echt waren: abgetrennte und in Plastik eingewickelte Füße.

Im Kühlschrank fanden sich drei blutige Messer und ein Schnittbrett. In einem Müllsack steckten blutige Handtücher. »Ich verstehe, dass dies falsch gewesen sein mag, und bitte um Verzeihung für den Schmerz, den ich verursacht habe«, sagte der Mörder in seinem Geständnis.

trauer Dass diese ungeheuerliche Tat in Borough Park – der Gegend in Brooklyn, wo sie verübt wurde – für Bestürzung gesorgt hat, versteht sich beinahe von selbst. Es gab eine Trauerfeier, die von Lautsprechern nach außen übertragen wurde. Man sah gestandene Männer in schwarzen Hüten auf der Straße stehen und weinen.

Borough Park ist eine fromme Gegend, in der vor allem Bobower Chassiden leben. »Dies ist ein Viertel, in dem es keine Verbrechen gibt«, sagte Dov Hikind, selbst ein frommer Jude, der Borough Park in der State Assembly des Bundesstaates New York in Albany vertritt. »Alle sind absolut entsetzt, alle stehen unter Schock, können es nicht glauben, nicht verstehen ... das plötzliche Verschwinden und dann die Details ... und die Tatsache, dass jemand, der im weitesten Sinn zur Gemeinschaft gehört ... es ist schrecklich.« Diese Reaktion ist typisch und sehr menschlich.

Aber eine wesentliche Tatsache bleibt dabei unerwähnt. Wenn es im Geständnis des Mörders nämlich etwas gibt, was nicht ganz glaubhaft erscheint, dann ist es die Behauptung, er und der Junge hätten in verschiedenen Zimmern geschlafen. Es könnte sein, dass Leiby Kletzky vor seinem Tod sexuell missbraucht wurde.

diskussion Sexueller Kindesmissbrauch – das war in ultrafrommen Gemeinden in Amerika (und Israel) bis vor kurzem ein Thema, über das nicht gesprochen wurde. Es gab dieses Verbrechen nicht, es durfte dieses Verbrechen nicht geben. Aber in den vergangenen zwei Jahren hat eine offene Diskussion darüber begonnen.

Dov Hikind sagte 2009 in einer Radiosendung: »Wenn du pädophil bist, schließe dich einer orthodoxen Gemeinschaft an. Dort bist du sicher. Es ist traurig, dass ich das sagen muss, aber es ist so.« Hinterher erhielt Hikind dutzendweise Anrufe aus der ganzen Welt: Leute, die als Kinder missbraucht worden waren, fühlten sich endlich frei, von dem zu reden, was man ih-
nen angetan hatte.

Heute gibt es orthodoxe jüdische Psychotherapeuten, die Missbrauchsopfern und ihren Familien beistehen. In ultrafrommen Gemeinden werden Vortragsabende veranstaltet, in denen das Publikum darüber aufgeklärt wird, dass die Täter nicht auf irgendeinem anderen Stern, sondern in der eigenen Gemeinschaft zu suchen sind, häufig sogar im engeren Familienkreis. Außerdem werben solche Vortragende dafür, in jedem Fall die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten.

Vielleicht wird der schreckliche Tod des kleinen Leiby Kletzky dazu beitragen, dass das Tabu um den sexuellen Missbrauch von Kindern in der orthodoxen Gemeinschaft endgültig fällt. Hannes Stein

Meinung

Die SP im moralischen Blindflug

Mit zwei widersprüchlichen Resolutionen beweist die Sozialdemokratische Partei der Schweiz einmal mehr ihre ethische Orientierungslosigkeit

von Nicole Dreyfus  27.10.2025

USA

Der reichste Mann der Welt – für einen Tag

Larry Ellison gehört zu den Großen des Silicon Valley und hält Künstliche Intelligenz für die wichtigste Erfindung der Menschheit

von Sara Pines  26.10.2025

Nachruf

Letzter Kämpfer des Aufstands des Warschauer Ghettos gestorben

Michael Smuss wurde 99 Jahre alt

 24.10.2025

Wien

Nobelpreisträger warnt vor technischer Abhängigkeit von den USA

Joseph E. Stiglitz kritisiert Präsident Trump und ruft Wissenschaft und Medien zur Verteidigung der Medienfreiheit weltweit auf

von Steffen Grimberg  24.10.2025

Polen

Antisemitische Hetzer verhindern Konzert jüdischer Musiker

Der Chor der Pestalozzi-Synagoge in Berlin war eingeladen, in Września gemeinsam mit dem dortigen Kinderchor den Komponisten Louis Lewandowski zu ehren. Nach Hetze und Drohungen wurden alle Veranstaltungen abgesagt

von Sophie Albers Ben Chamo  23.10.2025

Großbritannien

Jiddisch verbindet

Zwischen Identitätssuche, Grammatik und Klezfest. Unsere Autorin war beim Sprachkurs »Ot Azoy« in London

von Sabine Schereck  23.10.2025

Rabbiner Noam Hertig aus Zürich

Diaspora

Es geht nur zusammen

Wie wir den inneren Frieden der jüdischen Gemeinschaft bewahren können – über alle Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten hinweg

von Rabbiner Noam Hertig  23.10.2025

Großbritannien

Ärztin wegen antisemitischer Agitation festgenommen

Dr. Rahmeh Aladwan wurde vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen, weil sie die Hamas-Verbrechen vom 7. Oktober verherrlicht hatte. Nun muss der General Medical Council über ihre Approbation entscheiden

von Michael Thaidigsmann  22.10.2025

Regierungsrätin und Vorsteherin der Gesundheitsdirektion Natalie Rickli lehnte die unverbindliche Anfrage des Bundes ab, 20 Kinder aus Gaza in der Schweiz aufzunehmen.

Schweiz

Kinder aus Gaza bald in Zürich?

In der Schweiz wird eine politische Debatte darüber geführt, ob verletzte Kinder aus dem Gazastreifen aufgenommen werden sollen

von Nicole Dreyfus  22.10.2025