Europa

Der Kassenwart

Viele Franzosen hoffen, dass Frankreich durch ihn ein besseres Image und mehr Einfluss in der EU bekommt: Pierre Moscovici Foto: Reuters

Der neue EU-Wirtschafts- und Währungskommissar, Frankreichs früherer Finanzminister Pierre Moscovici, spricht sich für Investitionen und gegen den Sparzwang aus. Dass ausgerechnet ein Politiker aus dem hochdefizitären Frankreich diesen Posten bekam, hat Symbolcharakter.

»Frei ist der Mann, der keine Angst hat, seine Gedanken in die Tat umzusetzen.« Dieses Zitat des sozialistischen Vordenkers Léon Blum steht ganz oben auf Moscovicis Blog. Offenbar hat der neue Kommissar – er gilt als waschechter Sozialdemokrat – genau das vor: »Diese Kommission soll die des Wachstums und der Schaffung von Arbeitsplätzen durch Investitionen sein«, hatte er vor Kurzem erklärt.

Moscovici glaubt, dass der Sparzwang die Volkswirtschaften austrocknet. Das von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker versprochene 300-Milliarden-Euro-Investitionspaket bezeichnet er deshalb als den »Dreh- und Angelpunkt, als das wichtigste politische Signal« der Kommission.

Herkunft Pierre Moscovici wurde 1957 in Paris als Sohn der polnisch-jüdischen Psychoanalytikerin Marie Bromberg-Moscovici und des rumänisch-jüdischen Sozialpsychologen Serge Moscovici geboren. Sein Vater hatte das Pogrom in Bukarest 1941 miterlebt und musste als Jugendlicher mehrere Jahre Zwangsarbeit verrichten.

Pierre Moscovici selbst hat sich öffentlich mehrmals als »Jude und Zionist« bezeichnet. Ein Freund, der frühere Vizepräsident der jüdischen Gemeinde im nordfranzösischen Belfort-Montbéliard, Henri Engelyc, sagt über ihn: »Er ist kein praktizierender Jude, aber er ist dem Judentum verbunden.«

Über Moscovicis Privatleben ist nicht viel bekannt. Man weiß, dass er geschieden ist. Schlagzeilen machte, dass er in den vergangenen Jahren mit einer Philosophiestudentin liiert war, die 30 Jahre jünger ist als er. Angeblich brach die Beziehung jedoch vor einigen Monaten auseinander.

Studium Bereits als junger Mann bestach Moscovici mit seinen intellektuellen Leistungen: Er studierte Wirtschafts- und Politikwissenschaft und kann auch einen Abschluss in Philosophie vorweisen. Er ist Absolvent der französischen Eliteschule ENA, die als Kaderschmiede gilt und viele hochrangige Politiker hervorgebracht hat.

Moscovicis Herz gehörte von Anfang an der Linken. Nach einem kurzen Flirt mit den Trotzkisten trat er 1984 der Sozialistischen Partei bei, arbeitete sich vom einfachen Abgeordneten zum Europaminister hoch und wurde später Frankreichs Finanzminister. Sein Freund Engelyc lobt ihn als besonders »prinzipientreu und aufrichtig«. Er sei »mit der Politik verheiratet«. In der Tat tauchte sein Name bisher nicht im Zusammenhang mit den ständigen Affären und Korruptionsskandalen auf, die für die französische Politik der vergangenen Jahre so typisch sind.

Viele Franzosen glauben, Moscovici werde seiner neuen Aufgabe in Brüssel gerecht werden. Sie hoffen, dass Frankreich durch ihn ein besseres Image und mehr Einfluss in der EU bekommt. Das Nachrichtenmagazin L’Express meint, der Kommissarsposten sei »dem brillanten und europafreundlichen Moscovici angemessen«.

kritik Manche Kommentatoren äußern jedoch scharfe Kritik an seinen wirtschaftspolitischen Ideen. So schrieb die Zeitung La Tribune, »die Bilanz seiner Amtszeit als Finanzminister ist geradezu desaströs. Seine Politik des Sparens und der Steuererhöhungen hat das Vertrauen der Unternehmer und die Kaufkraft ruiniert«. In einem Fernsehinterview verteidigte Moscovici seine Leistungen und sagte, er habe das Staatsdefizit um einen Prozentpunkt gesenkt.

In Brüsseler Kreisen stellt man sich dennoch die Frage, ob Moscovici glaubwürdig sein kann, tritt er seine Amtszeit doch zu einem Zeitpunkt an, da Frankreich sich zunehmend von der Drei-Prozent-Schuldengrenze des Maastricht-Vertrags entfernt. Schätzungen zufolge wird das Defizit im kommenden Jahr bei rund 4,4 Prozent liegen. Moscovici kündigte an, seinem eigenen Land gegenüber die nötige Strenge walten zu lassen.

Israel Manche Juden in Frankreich und in anderen europäischen Ländern fragen sich, ob Moscovici zum Nahostkonflikt Stellung nehmen wird, auch wenn das nicht in sein Ressort fällt. »Dem Judentum fühlt er sich auf jeden Fall verpflichtet«, meint sein Freund Henri Engelyc. Dies zeige sich vor allem in seiner Liebe zu Israel: »Er ist auf jeden Fall dagegen, einen palästinensischen Staat jetzt anzuerkennen.«

In der Öffentlichkeit hat sich der neue Kommissar zu diesem heiklen Thema allerdings bisher kaum geäußert. Bei einer Rede vor der französisch-israelischen Handelskammer 2013 plädierte Moscovici für eine stärkere wirtschaftliche Kooperation zwischen beiden Ländern, vor allem in den Bereichen Forschung und Entwicklung. »Frankreich investiert nur rund eine Million Euro in Israel, das ist etwa so viel wie in Jordanien. Es gibt zu wenige französische Unternehmen in Israel.« Vor allem kritisierte Moscovici die »Selbstzensur« französischer Unternehmer, die glaubten, man könne nicht gleichzeitig Geschäfte mit Israel und anderen Ländern der Region machen. Das sei »ein Mythos«.

Wegen seiner Herkunft hat Moscovici auch schon antisemitische Anfeindungen erlebt, selbst aus den eigenen Reihen. So bezeichnete ihn bei einem Parteitag der Spitzenpolitiker Jean-Luc Mélenchon als »kleine Intelligenzbestie, die die ENA absolviert hat und nur an die internationale Finanzwelt denkt«. Der heutige Staatssekretär Harlem Désir zeigte sich schockiert und erklärte: »Das ist das Vokabular der 30er-Jahre. Ich kann nicht glauben, so etwas aus dem Mund eines republikanischen Politikers zu hören.«

Meinung

Nemo unverbesserlich

Nemo gibt mit Rückgabe der ESC-Siegertrophäe auch Haltung ab. Statt Rückgrat zu zeigen, schwimmt das Schweizer Gesangswunder von 2024 im postkolonialen Strom mit

von Nicole Dreyfus  12.12.2025

Damaskus

Syriens Regierung erteilt erster jüdischer Organisation Lizenz

Mit Rabbiner Henry Hamras Stiftung »Jüdisches Erbe in Syrien« wird erstmals seit dem Ende der Assad-Dikatur wieder eine jüdische Organisation in dem arabischen Land aktiv sein

 11.12.2025

Museum

Auschwitz-Gedenkstätte zeigt neue Ausstellung

Mit einer neuen Ausstellung will die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau das Schicksal der Häftlinge des Konzentrationslagers zeigen

von Christiane Laudage  11.12.2025

USA

An der Columbia University war Theodor Herzl Antisemit

Ein Abschlussbericht zum Antisemitismus an der New Yorker Elite-Universität zeigt, wie tief die Israel- und Judenfeindlichkeit im Lehrplan verankert war

 11.12.2025

USA

Wer hat Angst vor Bari Weiss?

Sie gilt als eine der einflussreichsten konservativen Medienmacherinnen des Landes. Aber was will die neue Chefin von CBS News eigentlich?

von Sarah Thalia Pines  11.12.2025

Brigitte Macrons Ausfall gegen Aktivistinnen entfacht eine landesweite Debatte.

Frankreich

First Lady an Abittans Seite – und gegen Feministinnen

Brigitte Macrons Ausfall gegen Feministinnen wirft ein Schlaglicht auf Frankreichs Umgang mit Protest, sexueller Gewalt und prominenten Beschuldigten.

von Nicole Dreyfus  11.12.2025

Nachruf

Gebäude wie Jazzmusik

Frank Gehry hat die Architektur tanzen lassen – was auch mit seinem Judentum zu tun hatte

von Johannes Sadek, Christina Horsten  10.12.2025

Hollywood

»Stranger Things« trotzt Boykottaufrufen

Während Fans den Start der letzten Staffel des Netflix-Hits feiern, rufen Anti-Israel-Aktivisten zur Ächtung der Serie auf

von Sophie Albers Ben Chamo  10.12.2025

Toronto

20 Mesuot aus Seniorenheim gestohlen

Die Polizei geht von einem Hassverbrechen aus

 09.12.2025