Porträt

Der Iberzetser

»Wir haben nur wenige Mitarbeiter, dabei gäbe es viel zu tun«: Walerij Dymschiz über das interdisziplinäre Zentrum St. Petersburger Judaica Foto: Polina Kantor

Wer Deutsch und Russisch spricht, ist dazu prädestiniert, Jiddisch zu lernen. Dieses Credo von Walerij Aronowitsch Dymschiz wirkt so einleuchtend, dass man rasch im Kopf beginnt einen Zeitplan zusammenzustellen, um dem profilierten Übersetzer aus dem Jiddischen beim nächsten Treffen erste Lernergebnisse präsentieren zu können. 60 Prozent Wortschatz aus dem Deutschen, 20 Prozent aus slawischen Sprachen, nur den Rest muss man sich noch aneignen. »Sie haben einen Bonus – zwei Buchstaben kennen Sie bereits«, beendet Dymschiz seinen mit Leidenschaft artikulierten Werbeblock mit dem Hinweis, dass sich zwei Buchstaben aus dem kyrillischen Alphabet auch im Hebräischen finden.

Als 1959 in Leningrad geborener, dort sozialisierter und somit alteingesessener Bewohner der nördlichen russischen Kulturmetropole St. Petersburg hat Dymschiz ein Faible für die kleinen ortsüblichen Kneipen – sogenannte Rjumotschnyje. Die meisten der sich aus Sowjetzeiten in den Kapitalismus hinübergeretteten volksnahen Schenken sind längst geschlossen. Eine atmosphärische, wenngleich nicht ursprüngliche Rjumotschnaja liegt zwischen dem rund um die Uhr pulsierenden Newskij-Prospekt und dem Puschkin-Denkmal im Stadtzentrum. Trotzdem verirren sich Touristen nur selten hierher. Dafür hat das Lokal einen großen Kreis an Stammgästen, darunter auch Dymschiz.

Vor neun Jahren starb St. Petersburgs letzte jiddischsprachige Schriftstellerin.

Nicht weit entfernt ist auch das jüdische Gemeindezentrum, wo der Jiddisch-Kenner Sprach- und Übersetzungskurse gibt, die offen für alle sind. »Viele junge Leute lernen Latein oder Chinesisch, sie fragt niemand, warum sie das tun«, erwidert Dymschiz auf eine noch gar nicht ausformulierte Frage nach den Kursteilnehmern. »Es gibt zig Sprachen, nur bei Jiddisch denken alle, dass man jüdische Wurzeln haben muss, wenn man es lernt.«

Erst als Erwachsener mit bereits 40 Jahren hat er angefangen, Jiddisch zu lernen

Dymschiz selbst kommt aus einer jüdischen Familie. Zu Hause wurde Russisch gesprochen, erst als Erwachsener mit bereits 40 Jahren hat er angefangen, Jiddisch zu lernen. »Ich fand das einfach interessant«, lautet seine Begründung. Fakt ist, dass in Russland kaum jemand Jiddisch spricht. Hier ist es ihm wichtig hinzuzufügen, dass sich Sprachen, die keine offiziellen Landessprachen sind, auf der ganzen Welt in einer prekären Lage befänden. »Von allen nichtoffiziellen Staatssprachen ist Jiddisch eine der am meisten geförderten«, betont Dymschiz. Programme und Sprachlehrbücher gebe es zuhauf, wenn nicht auf Papier, dann digital. »Vom Internet wurde Russland bislang noch nicht abgekoppelt.« Der Sarkasmus in seiner Stimme ist nicht zu überhören, trotz des im Hintergrund steigenden Geräusch­pegels. Vor der Bartheke hat sich bereits eine Schlange gebildet.

Ohnehin geht es Dymschiz weniger um die gesprochene als um die Schriftsprache. Genauer gesagt um Literatur. Mit professionellen Literaturübersetzungen aus dem Englischen und Deutschen befasst er sich schon seit langer Zeit, eines Tages wagte er sich dann auch ernsthaft an Übersetzungen aus dem Jiddischen. Es fiel ihm nicht schwer, Gedichte, Prosa, Theaterstücke oder Memoiren für eine russischsprachige Leserschaft aufzubereiten.

In seiner Heimatstadt gab es nur wenige Schriftsteller, die ihre Werke auf Jiddisch verfassten. Die jiddischsprachige Kultur konzentriere sich auf Moskau, Kyiv, Charkiw, Odessa, Czernowitz oder Minsk. Heute ist niemand mehr von ihnen am Leben. 2016 starb Mascha Rolnikaite, die letzte jiddischsprachige Schriftstellerin in St. Petersburg. Auch in litauischer Sprache schrieb sie ihre Texte, seit den 50er-Jahren publizierte sie jedoch hauptsächlich auf Russisch. Dymschiz und Rolnikaite arbeiteten nicht nur über lange Zeit zusammen, sie verband auch eine enge Freundschaft.

Auf jüdische Kultur spezialisierte Forschungseinrichtung

Mit dem interdisziplinären Zentrum St. Petersburger Judaica existiert seit dem Jahr 2000 an der Europäischen Universität eine auf jüdische Kultur spezialisierte Forschungseinrichtung. »Wir haben nur wenige Mitarbeiter, dabei gäbe es viel zu tun.« Dymschiz erklärt, dass er dort über vier Semester, von September 2021 bis Juni 2023, ein Übersetzungsseminar angeboten hat – als Berufsfortbildung für Menschen, die aus dem Jiddischen übersetzen wollen. Es handelte sich um ein Studienexperiment mit strengem Auswahlverfahren. Im Moment fehle es an Sponsoren, es sei deshalb unklar, ob es eine Fortsetzung geben werde.

Ende vergangenen Jahres verurteilte ein Gericht die Europäische Universität zu einer Geldstrafe von umgerechnet rund 7000 Euro, weil sich in deren Bibliotheksbeständen acht Bücher befanden, die mithilfe ausländischer Förderinstitutionen herausgegeben wurden, die in Russland als »unerwünscht« gelten. Darüber hin­aus fanden behördliche Kontrollen zu möglichen extremistischen Inhalten in Dissertationen und in Publikationen der Dozenten statt. Doch im Moment scheint sich die Lage an der Universität beruhigt zu haben.

»Ich habe keine Probleme«, stellt Dymschiz klar. Das kann sich von heute auf morgen ändern, und natürlich sei die Lage in Russland inakzeptabel. Viele hätten das Land verlassen, aber nicht wegen Antisemitismus, darauf insistiert er. Und er betont, dass es an russischen Universitäten mehrere Lehrstühle für jüdische Studien mit unterschiedlichen Schwerpunkten gibt. Von einer Erfolgsgeschichte würde er zwar nicht sprechen, doch man könne arbeiten und forschen. »Die jüdische Frage ist wahrscheinlich die letzte, die jemanden interessiert«, so Dymschiz.

Philologe, Literaturwissenschaftler, Ethnograf, Anthropologe

Vor Kurzem hat er sein neues, auf drei Jahre angelegtes Forschungs-projekt über Juden im Nord- und östlichen Kaukasus, die sogenannten Bergjuden, begonnen. Und damit kommt er zum nächsten Thema, für das er große Begeisterung und eine langjährige Expertise mitbringt. Denn Walerij Dymschiz hat viele Professionen: Er ist Philologe, Literaturwissenschaftler, Ethnograf, Anthropologe. Viele Jahre befasste er sich mit der Ethnografie der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa, aber mit Reisen in westlichere Gefilde, wie sie früher üblich waren, ist jetzt Schluss. Insbesondere die Ukraine ist vorerst tabu. »Mir scheint, derzeit ist mir der Weg dorthin versperrt«, umschreibt der Forscher die Misere.

Mit seiner Arbeit über die Bergjuden hat Dymschiz bereits vor 25 Jahren Grundlagenliteratur vorgelegt. Im Zarenreich gab es gegenüber der jüdischen Bevölkerung eine eklatant diskriminierende Gesetzgebung. So sind die kaukasischen Juden zwar auch Juden, juristisch gesehen fielen sie jedoch nicht unter die Regelungen, die für die jüdische Bevölkerung galten. Um sie irgendwie zu fassen, prägte die zaristische Bürokratie schließlich den irreführenden Begriff Bergjuden. Für die Bergvölker des Kaukasus galten andere Gesetze, und dass die Bergjuden nicht im Hochland, sondern im kaukasischen Flachland siedelten, spielte bei der Definition keine Rolle.

Allein in der russischen Hauptstadt leben heute rund 30.000 Bergjuden. Gleichzeitig stagnieren die alten, angestammten Siedlungsgebiete wie Derbent oder Machatschkala in Dagestan oder Naltschik. Nur in Pjatigorsk und Moskau entwickele die ökonomisch aktive Community eine aufstrebende Dynamik, so Dymschiz. Beispielsweise betrieben Bergjuden einen der größten Moskauer Märkte, den Sadowod, wo es auch eine Synagoge gebe. Sie stünden für Tradition und Moderne und seien äußerst divers, was sie zu einem interessanten Forschungsobjekt mache. »Schließlich sind sie keiner Parteidisziplin unterworfen«, konstatiert Dymschiz trocken.

Ein Glas Bier und eine gewisse Zufriedenheit

Am Nachbartisch werden derweil Stühle gerückt. Es wird noch lauter im Raum, dafür auch internationaler, denn eine Gruppe Französisch sprechender Männer hat sich zu einem Glas Bier eingefunden. Der Abend schreitet fort, und Dymschiz strahlt eine gewisse Zufriedenheit aus: »Meine Lebensphilosophie ist simpel: Ich tue, was ich für richtig halte.« Gibt es ein vorzeigbares Resultat, freut er sich daran.

Anlässe finden sich bei seinem Schaffensdrang zur Genüge. Sein jüngstes Buch ist dem letzten in der Sowjetunion lebenden und wirkenden chassidischen Oberhaupt gewidmet, dem Ribnitzer Rebben, Chaim Zanvl Abramowitz. Selbst unter der Herrschaft Stalins blieb der aus dem heutigen Transnistrien stammende Zaddik sich treu. 1970 verließ er das Land und starb Mitte der 90er-Jahre hochbetagt in New York.

Zu Sowjetzeiten wurden keine jüdischen Schriftsteller aus dem Ausland übersetzt.

Zu Sowjetzeiten wurde viel aus dem Jiddischen übersetzt, aber nur Literatur sowjetisch-jüdischer Schriftsteller, insofern gibt es für Übersetzer ein riesiges unbearbeitetes Feld. Dymschiz hat es in erster Linie Prosa angetan, wobei er bei der Sondierung zwei Kriterien zugrunde legt: Entweder ihm gefällt ein Text aufrichtig – oder es gibt einen Auftrag. Er weiß sein Gegenüber mit immer neuen Details aus der Reserve zu locken, so auch mit der Aussage »Jiddisch ist der Traum einer Feministin.« Er erklärt das so: »Frauen waren des Hebräischen nicht mächtig und konnten auch die alten Sprachen nicht, so lag das Jiddische komplett in ihren Händen.« Auch hier gelte, man müsse aus der riesigen Menge an Literatur einfach eine Auswahl treffen.

Bis auf ganz wenige Ausnahmen böten jüdische Schriftsteller für Verlage allerdings keine kommerziellen Erfolgsaussichten. Märchen hätten schon mal höhere Auflagen, ansonsten produziere er keine Bestseller und übersetze oft einfach nur für sich selbst. »Natürlich ärgert es mich, dass es kein wirkliches Interesse an jiddischer Literatur gibt«, sagt Dymschiz. »Die russische Kultur ist wie jede Kultur in großen Ländern zweifellos imperialistisch, auch wenn vielleicht latent und nicht unbedingt reflektiert.« Übersetzungen aus dem Deutschen hätten es auf dem Markt jedenfalls definitiv leichter als aus dem Lettischen oder Ungarischen. Generell gäbe es für ernsthafte Literatur und Poesie sowieso keine große Leserschaft.

Dass russischsprachige Menschen heute mehr und mehr Einblicke in jiddische Literatur erhalten, ist zu weiten Teilen Walerij Dymschizʼ Verdienst. Das meiste hat er selbst übersetzt oder andere dazu befähigt, es zu tun. Hut ab, möchte man sagen. Doch er winkt ab. »Ich bleibe da völlig gelassen«, antwortet er ohne mit der Wimper zu zucken.

Großbritannien

Nike hat es »nicht böse gemeint«

Der Sportartikel-Konzern hing zum London Marathon ein Banner auf, das aus Sicht von Kritikern die Schoa lächerlich gemacht hat. Jetzt hat sich das Unternehmen entschuldigt.

 29.04.2025

Schweiz

Junger Mann wegen geplanten Anschlags auf Synagoge Halle verhaftet

Die Anschlagspläne soll er laut Staatsanwaltschaft zwischen Juli 2024 und Februar 2025 wiederholt in einer Telegram-Chatgruppe angekündigt haben

 29.04.2025

Sport

Nach Anti-Israel-Eklat: Jetzt sprechen die Schweizer Fechter

Bei der Nachwuchs-EM der Fechterinnen und Fechter kommt es in Estland zu einer viel diskutierten Szene. Nun haben sich die verantwortlichen Schweizer erklärt

 28.04.2025

Fecht-EM

Schweizer Fechter schauen bei israelischer Hymne demonstrativ weg

Nachdem die U23-Mannschaft der Schweizer Fechter gegen Israel protestierte, äußert sich nun der Schweizer Fechtverband und verurteilt den Vorfall

von Nicole Dreyfus  28.04.2025

Großbritannien

Israelfeindliche Aktivisten stören London-Marathon

Mitten im London-Marathon kommt es zu einer Protestaktion gegen Israel. Zwei Aktivisten springen auf die Strecke und streuen rotes Pulver

 27.04.2025

Essay

Wir gehen nicht allein

Zum ersten Mal hat unsere Autorin mit dem »Marsch der Lebenden« das ehemalige KZ Auschwitz besucht. Ein Versuch, das Unvorstellbare in Worte zu fassen

von Sarah Maria Sander  27.04.2025

Frankreich

Serge Klarsfeld: »Wir müssen vorbereitet sein«

Der Holocaust-Überlebende und Nazi-Jäger hat in »Le Figaro« einen dringenden Appell veröffentlicht und erneut für rechte Parteien geworben. Das Judentum sei bedrohter denn je, glaubt er

 25.04.2025

USA

Sharon Osbourne vs. die Anti-Israel-Popkultur

Rock-Veteranin Sharon Osbourne hat sich mit dem irischen Rap-Trio Kneecap angelegt, das offensichtlich meint, mit Hassrede gegen Israel seine Fanbase vergrößern zu können

von Sophie Albers Ben Chamo  25.04.2025

KZ-Gedenkstätte Auschwitz

Israels Präsident Isaac Herzog und Eli Sharabi beim »Marsch der Lebenden«

Auf dem Weg von Auschwitz nach Birkenau sind diesmal auch ehemalige israelische Geiseln der Hamas dabei. Israels Präsident Herzog erinnerte an die weiterhin in Gaza gefangen gehaltenen israelischen Geiseln

 24.04.2025