Medizin

Das Geheimnis des Fadenwurms

»Er klang sehr müde«: Der Genetiker Gary Ruvkun (72) wurde in der Nacht zu Montag vom Anruf des Nobelkomitees aus Stockholm überrascht. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Der Anruf aus Stockholm kam mitten in der Nacht und völlig unerwartet. »Ich konnte Gary Ruvkun wecken. Seine Frau ist rangegangen, und es hat lange gedauert, bis er ans Telefon kam. Er klang sehr müde«, schilderte Thomas Perlmann vom Nobelkomitee des Karolinska-Instituts, das den Medizinnobelpreis vergibt, die Ergebnisse seines Anrufs bei einem der diesjährigen Preisträger. Doch Ruvkun freute sich sichtlich. Auf dem
X-Konto der Harvard Medical School ließ der Mann mit dem großen Schnauzbart ein Foto von sich samt Frau, Tochter und Hund verbreiten.

Ruvkun, geboren 1952 in Berkeley, ist bereits der 25. jüdische Gewinner des Nobelpreises für Medizin; der erste war 1908 der Deutsche Paul Ehrlich. Der 72 Jahre alte Amerikaner Ruvkun erhält die hohe Auszeichnung gemeinsam mit seinem langjährigen Forschungspartner, Victor Ambros (70). Ruvkun forscht und lehrt an der Harvard University, an der auch Am­bros einige Zeit tätig war.

Seit 2008 ist Ambros Professor an der University of Massachusetts. Ihn konnte das Nobelkomitee nicht sofort telefonisch erreichen. »Ich habe eine Nachricht auf seinem Handy hinterlassen und hoffe, dass er mich bald zurückruft«, meinte Perlmann zunächst. Kurz darauf sei das Telefonat doch noch zustande gekommen, erzählte Ambros einige Stunden später bei einer Pressekonferenz an seiner Universität im US-Bundesstaat Massachusetts.

Er habe die Ehre nicht erwartet, sagte Ambros, und freue sich darauf, mit Ruvkun zu feiern.

»Heute Morgen habe ich lange geschlafen, und mein Telefon war ein Stockwerk tiefer. Dann haben wir einen Anruf von unserem Sohn bekommen, der meine Frau erreichte und sagte: ›Wenn jemand aus Schweden anruft, geht dran!‹« Er habe die Ehre nicht erwartet, sei »erstaunt, überrascht und erfreut«, sagte Ambros. Er freue sich darauf, mit Ruvkun zu feiern.

Ruvkun ist bereits der 25. jüdische Gewinner des Nobelpreises für Medizin.

Seit den 60er-Jahren war bekannt, dass die sogenannte Messenger-RNA (mRNA) den Bauplan für die Produktion von Proteinen in Zellen trägt.

Dagegen galten die nicht kodierenden RNAs – also ohne solche Informationen – lange als genetischer Müll. Für einen Teil davon, die microRNAs, haben die Nobelpreisträger Victor Ambros und Gary Ruvkun dies widerlegt. Die beiden Wissenschaftler wurden für die Entdeckung der microRNA-Organismen und deren Rolle bei der Genregulierung im menschlichen Körper ausgezeichnet. Diese Moleküle bestimmen nämlich seit Millionen von Jahren die Entwicklung von Lebewesen mit. Die microRNA werden von Körperzellen gebildet und sollen den Erkenntnissen zufolge dafür sorgen, dass bestimmte Proteine im richtigen Moment in der benötigten Menge produziert werden.

Mittels der kleinen Teilchen sollen künftig Krankheiten schneller und wirksamer bekämpft werden

Gleichzeitig können sie auch an negativen Prozessen beteiligt sein, zum Beispiel an Herzkrankheiten, Krebsgeschwüren oder Sehstörungen. Mittels der kleinen Teilchen sollen künftig Krankheiten aber auch schneller und wirksamer bekämpft werden, zum Beispiel, indem man künstlich erzeugte microRNA-Moleküle einsetzt.

Ende der 80er-Jahre arbeiteten die beiden Wissenschaftler als Postdoktoranden im Labor des amerikanischen Biologen H. Robert Horvitz, der seinerseits 2002 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Sie untersuchten dabei aus Neugier und ohne spezifisches Ziel zwei mutierte Formen des Fadenwurms, die als lin-4 und lin-14 bekannt sind.

Als Ambros Anfang der 90er-Jahre nach Harvard wechselte, machte er eine überraschende Entdeckung. Das Gen lin-4 produzierte ein sehr kurzes RNA-Molekül, das die Expression von lin-14 zu hemmen schien. Zur selben Zeit setzte Ruvkun seine Studien fort und wies nach, dass lin-4 lin-14 nicht hemmte, sondern die Gen­expression später abschaltete, indem es die Produktion des von lin-14 kodierten Proteins verhinderte.

Ohne spezifisches Ziel untersuchten die Forscher Ende der 80er-Jahre mutierte Fadenwürmer.

Die beiden Forscher verglichen ihre Ergebnisse und stellten fest, dass die Sequenz von lin-4 zu einigen Sequenzen von lin-14 komplementär war. Es war die Entdeckung eines Mechanismus zur Gensteuerung, der zuvor noch nie beobachtet worden war. 1993 veröffentlichten Ambros und Ruvkun ihre Ergebnisse in zwei Artikeln in der Fachzeitschrift »Cell«.

Im Jahr 2000 veröffentlichte Ruvkun die Entdeckung eines weiteren microRNA-Moleküls, das von einem Gen namens let-7 kodiert wird und in der gesamten Tierwelt vorkommt. Seitdem wurden beim Menschen mehr als 1000 microRNA-Gene entdeckt.

Großer Erkenntnisgewinn für die Humanmedizin

Zwar werden die von Ambros und Ruvkun gewonnenen Erkenntnisse momentan noch nicht direkt beim Menschen zur Bekämpfung von Krankheiten wie Krebs oder Diabetes angewandt. Sie haben aber bereits zu einem großen Erkenntnisgewinn für die Humanmedizin geführt und dürften in nicht allzu ferner Zukunft auch Anwendung finden. Auch zur Diagnose von Alzheimer und anderen Formen von Demenz, bevor tatsächliche Symptome auftreten, sollen die Erkenntnisse der beiden Mediziner beitragen.

Bereits zu einer Zeit, als sich noch kaum jemand für das Thema interessiert habe, hätten Ambros und Ruvkun dazu geforscht, betonte Ole Kämpe vom Nobelpreiskomitee. »Aus Zufall haben sie unerwartet einen völlig neuen physiologischen Mechanismus entdeckt, von dem niemand zuvor etwas geahnt hatte« und der die Gene reguliere. Die Erkenntnisse der beiden Forscher nannte Kämpe »bahnbrechend«. An Alfred Nobels Todestag, dem 10. Dezember, wird der Preis in Stockholm überreicht. Er ist mit zehn Millionen schwedischen Kronen (rund 920.000 Euro) dotiert. (mit dpa)

Interview

»Wir stehen hinter jedem Film, aber nicht hinter jeder Aussage«

Das jüdische Filmfestival »Yesh!« in Zürich begeht diese Woche seine 10. Ausgabe, aber den Organisatoren ist kaum zum Feiern zumute. Ein Gespräch mit Festivaldirektor Michel Rappaport über den 7. Oktober und Filme, die man zeigen soll

von Nicole Dreyfus  06.11.2024

Gaza/Israel

Die Hamas gibt die Geiseln nicht frei - und die Welt schweigt

Ein Kommentar von Nicole Dreyfus

von Nicole Dreyfus  06.11.2024

Schweiz

Auf dem eigenen Weg

Vier orthodoxe Männer beschließen, ihre Gemeinschaft zu verlassen. Und damit alles, was ihnen seit ihrer Kindheit vertraut ist. Über Neuanfänge

von Nicole Dreyfus  06.11.2024

US-Wahl

Trumps unglaubliche Rückkehr an die Macht

In seiner ersten Amtszeit hielt Donald Trump die USA und die Welt in Atem. Nun kommt er zurück - entfesselter und extremer denn je. Mit dramatischen Folgen

von Andrej Sokolow  06.11.2024

USA

Bernie Sanders verteidigt Senatssitz in Vermont

Der jüdische Politiker bleibt damit eine prominente Stimme des linken Flügels in der Kammer

 06.11.2024

Islamische Republik

Iran richtet Juden (20) hin

Die Hinrichtungswelle geht weiter - am Montag wurde ein Mitglied der jüdischen Gemeinschaft im Iran gehängt

 04.11.2024

Frankreich

Im Stich gelassen

Juden werden bedroht, angegriffen und fühlen sich vom eigenen Präsidenten verraten. Ein Stimmungsbild aus dem Land der Aufklärung, das seine größte Errungenschaft zu vergessen droht

von Sybille Korte  03.11.2024

Iran

»Unterschreib, oder du bist tot!«

Am 4. November 1979 nahmen Studenten in Teheran US-Diplomaten als Geiseln. Barry Rosen war einer von ihnen

von Michael Thaidigsmann  03.11.2024

Europa

Allianz der Israelhasser

Mit antizionistischen Positionen will ein Bündnis aus muslimischen Parteien sowohl konservative als auch progressive Wähler mobilisieren

von Mark Feldon  31.10.2024