Österreich

Das »arisierte« Kochbuch

Hier gab es die besten Rezepte für österreichische Spezialitäten wie Topfenstrudel, Marillenknödel und Tafelspitz: So kocht man in Wien! hieß ein 1934 von Alice Urbach entwickelter und 1935 veröffentlichter Ratgeber. Die dritte Auflage erschien 1938 mit sensationellen 25.000 Exemplaren.

Doch wer heute im Katalog der österreichischen Nationalbibliothek nach dem früheren Bestseller sucht, findet ihn ab den späteren Auflagen von 1939 unter der Autorschaft eines Mannes namens Rudolf Rösch. Das gilt bis zur letzten verfügbaren Ausgabe aus dem Jahr 1966.

lizenzausgaben Doch Rösch hat das Werk nicht geschrieben – unklar ist, ob es ihn überhaupt gab. Der Verlag setzte den Namen Rösch auf ein Buch, das er Urbach zuvor gestohlen hatte: Als Jüdin durfte sie in Österreich nicht mehr publizieren. Ihre Kochanleitungen waren aber so gut und populär, dass der Verlag diese weiter vertrieb – nun »arisiert«. Nichts durfte ab der 2. Auflage und in den verschiedenen Lizenzausgaben mehr an Urbach erinnern.

Zeit ihres Lebens wollte der Autorin niemand helfen, das Werk zurückzubekommen.

Wie geht eine Bibliothek heute mit dieser Tatsache um? Das bibliografische Datum, nach dem Rösch als Autor auf dem Buch verzeichnet ist, kann nachträglich nicht geändert werden. Es würde die Katalogsuche unmöglich machen. Andererseits sollte der Diebstahl auch nicht legalisiert erscheinen.

Daher haben sich die Wiener Bibliothekare nun, 81 Jahre später, entschieden, einen Hinweis im elektronischen Verzeichnis anzubringen. Dieser lautet: »Wahre Urheberin des Kochbuchs war die jüdische Autorin Alice Urbach, deren Urheberschaft an dem Werk vom Verlag ab 1938 nicht mehr korrekt ausgewiesen wurde. Das Buch erschien fortan in einer vom Verlag eigenmächtig bearbeiteten Fassung unter dem falschen Autorennamen Rudolf Rösch.«

ERBEN Der deutsch-schweizerische Ernst Reinhardt Verlag reagierte nicht auf Anfragen seiner früheren Autorin. Erst ein Interview, das der »Spiegel« im Oktober mit der Enkelin führte, und die große Berichterstattung über den Fall bewegten den Verlag dazu, die Rechte den einzigen Erben zu übertragen: Karina Urbach und einer Cousine.

Der Verlag gibt jetzt sogar einen Nachdruck der Ausgabe von 1935 heraus. Ein Herr Rösch, der vormals als »langjähriger Küchenmeister in Wien und Mitarbeiter des Reichsnährstandes« betitelt wurde, wird nie wieder auftauchen. Es gab ihn wohl nicht.

Recherchen in alten Personenverzeichnissen ergeben: In Berlin, wo das Reichsernährungsministerium saß, gab es 1939 zwei Männer namens Rudolf Rösch, die aber Handelsvertreter waren. Sitz des Reichsnährstandes war Goslar. Dort gab es niemanden namens Rösch.

Flucht Die Hintergründe der »Arisierung« beschreibt Urbachs Enkelin Karina Urbach in ihrem Werk Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten, das jüngst im Ullstein Verlag erschienen ist.

Die Köchin Alice Urbach (geborene Mayer) war der Schoa durch Flucht nach England und später in die USA entronnen und besuchte nach dem Krieg ihre alte Heimat. Im Schaufenster einer Wiener Buchhandlung entdeckte sie ihr Buch mit dem falschen Autorennamen Rösch.

Obwohl Urbach später eine bekannte Fernsehköchin in Amerika wurde, wollte ihr zeitlebens niemand helfen, das 500-Seiten-Werk zurückzubekommen. Dabei waren nur wenige Texte verändert und alle Fotos noch von ihr gemacht worden – auf einigen waren sogar ihre Hände zu sehen. Die Autorenverträge waren indes auf der Flucht verloren gegangen.

recherchen Enkelin Karina erzählt diese Geschichte so eindrucksvoll wie lesenswert. Seit einigen Jahren forscht die Historikerin in Princeton am Institute for Advanced Study, mit der berühmten Adresse »1 Einstein Drive«. Sie ist komplizierte Recherchen für Veröffentlichungen zum Antisemitismus der Hohenzollern oder dem Adel, wie Hitlers heimliche Helfer (2016), gewohnt.

Für ihr neues Buch studierte sie sieben Familiennachlässe, interviewte ebenso viele Zeitzeugen und besuchte Archive unter anderem in den USA und Europa. Ausschlaggebend für die Entstehung des Buches waren vor allem die Funde ihrer Cousine Katrina. Diese übergab der Autorin vor einiger Zeit die Briefe ihres Vaters Otto aus den 30er-Jahren sowie eine Tonbandkassette von Alice aus den 70er-Jahren.

Dank dieser Quellen entstand eine dichte und bewegende Chronik. So beschreibt das Buch minutiös den Einmarsch der Nazis in Wien, als sich die Familie gerade in der Oper befindet. Schon das für danach geplante Abendessen muss ausfallen. Dann kommen Verfolgung, die Ermordung vieler Familienmitglieder und die geglückte Ausreise von Alice im Oktober 1938. In England betreut sie unbegleitete jüdische Flüchtlingskinder. Einige dieser »Kinder von Windermere« konnten für das Buch interviewt werden.

NATIONALBIBLIOTHEK Angesichts dieser öffentlichen Aufmerksamkeit handelt nun auch die Deutsche Nationalbibliothek: Bei den Auflagen des Buches ab 1939 wird eine Anmerkung ins Katalogisat aufgenommen, die auf die Autorschaft hinweist. Die genaue Form dieser Anmerkung wird gegenwärtig noch ausgearbeitet.

Der Fall ist für die Bibliothek zudem Anlass, für die Zukunft ein Vorgehen in Hinsicht auf Werke zu erarbeiten, bei denen eine geraubte Autorschaft jüdischer oder anderweitig verfolgter Autoren im Raum steht oder erwiesen ist.

Urbachs Kochbuch ist nicht das einzige Sachbuch, das die Nationalsozialisten umdeklarierten.

In der Tat ist Urbachs Kochbuch nicht das einzige Sachbuch, das die Nationalsozialisten umdeklarierten. Notwendig wäre eine systematische Recherche solcher Vorkommnisse durch Historiker. Denn in vielen Fällen wird es keine Nachkommen der Autoren geben und damit keine Rechte­inhaber.

umbenennung Eine ähnliche Debatte wird bereits in der Rechtswissenschaft geführt. Hier fordern studentische Initiativen die Umbenennung des Standardkommentars zum Bürgerlichen Gesetzbuch, der bis heute unter dem Namen des Nationalsozialisten Otto Palandt vertrieben wird.

Man könnte das Buch nach Otto Liebmann benennen, der seinen juristischen Verlag 1933 verkaufen musste. Der Münchener Verleger Heinrich Beck übernahm das Unternehmen in juristisch korrekter Weise, aber weit unter Wert. Davon profitiert das Unternehmen C.H. Beck bis heute.

Liebmann schied 1934 aus dem Verlag aus und wurde arbeitslos, er starb 1942 vereinsamt in Berlin. Die Kochbuchautorin Alice Urbach starb 1983 im Alter von 97 Jahren in Mill Valley, Kalifornien.

Karina Urbach: »Das Buch Alice. Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten«. Ullstein, Berlin 2020, 432 S., 25 €

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