Wien

Buchara im 2. Bezirk

Eine mit Graffiti beschmierte Hausfassade, daneben ein schäbiger Installateurladen – nichts lässt darauf schließen, dass sich im Erdgeschoss des unscheinbaren Hauses am Rand des Wiener Augartens das jüngste Bethaus der Stadt befindet. Betritt man das nach Israels früherem sefardischen Oberrabbiner Ovadia Yosef benannte »Beit Knesset Schaarej Ovadia«, könnte man fast vergessen, eben noch in einem der eher weniger prunkvollen Viertel Wiens gestanden zu haben.

Ein prächtiger Toraschrein erhebt sich an der Wand, rundum edle Holzvertäfelung, eine breite Auswahl an heiligen Büchern und Siddurim, dazu eine stattliche Beleuchtung und Klimaanlage. In seiner Ausstattung lässt das Bethaus kaum etwas zu wünschen übrig. »Baruch Haschem, wer hätte gedacht, dass wir hier so einen wundervollen Platz der Tora haben werden«, sagt Rabbiner Jizchak Niazov, der die Synagoge seit ihrer Fertigstellung Ende August leitet.

Mazzesinsel »Scha›arej Ovadia« ist das jüngste Bethaus der bucharischen Gemeinde in der Wiener Leopoldstadt. Der Bezirk wurde, weil er wegen seiner Lage zwischen Donau und Donaukanal nur über Brücken erreichbar ist, vor der Schoa im Volksmund »Mazzesinsel« genannt.

Ein wesentlicher Teil der heutigen jüdischen Präsenz in Wien ist auf die Einwanderung bucharischer Juden aus der Sowjetunion in den 70er-Jahren zurückzuführen. Die aus dem heutigen Usbekistan stammenden Eltern und Großeltern der jungen Gemeindemitglieder blicken als Nachkommen einer der ältesten jüdischen Gemeinden an der Seidenstraße auf eine traditionsreiche Kultur zurück, die das jüdische Leben auch im heutigen Wien stark prägt.

Die unermüdlichen Bemühungen der Einwanderergeneration, sich im Wien der 70er- und 80er-Jahre eine Existenz aufzubauen, machen sich inzwischen bezahlt: Viele der Kinder und Enkelkinder, die heute erfolgreiche Geschäftsleute sind oder studieren, tragen zu einem neuen Selbstverständnis der jüdischen Gemeinde Wiens bei. Während die ältere Generation in der Sowjetunion trotz widriger Umstände die jüdische Tradition aufrechterhielt und weitergab, widmen sich viele junge Bucharen heute in Wien mit Engagement dem jüdischen Gemeindeleben.

Eigendynamik Die Szene der jungen Religiösen boomt. Das Angebot reicht von Toravorträgen für Anfänger über regelmäßige Schiurim für Jugendliche, Frauen, junge Paare und Eltern bis hin zum täglichen Studium des Talmuds für Fortgeschrittene unter rabbinischer Anleitung. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht renommierte Referenten aus dem Ausland kommen.

»Religiöse Outreach-Organisationen mit ambitioniertem Programm gibt es viele, aber hier in Wien haben wir Leute, die kommen und mitmachen wollen. Aus dieser Eigendynamik heraus entstehen immer neue Dinge«, meint ein junger Mann, der jeden Tag eine Stunde zwischen dem Morgengebet und dem Beginn seiner Arbeit in einem der Bethäuser lernt.

»Viele Jugendliche und junge Erwachsene, die heute aktiv sind, haben hier in Wien jüdische Schulen besucht. Das wirkt sich natürlich auf die Identität aus. So ist es für viele selbstverständlich, sich in die Gemeinde einzubringen«, sagt Rabbiner Benjamin Sufiev, der neben seiner leitenden Funktion in der kaukasisch-jüdischen Gemeinde auch das Programm »Torat Chaim« mitgestaltet.

In diesem Rahmen wird in der Synagoge des bucharischen Gemeindezentrums »Bet Halevi« täglich zwischen sieben und zehn Uhr morgens vor und nach dem Schacharitgebet gelernt. Halacha, Chassidut, Talmud – das inhaltliche Spektrum ist auch hier breit und richtet sich nach Interesse und Wissensstand der Teilnehmer.

Rabbiner Sufiev freut sich über die aktive Szene und betont das Miteinander der verschiedenen Initiativen. »Es geht darum, Tora zu lernen und jüdische Identität zu festigen – deshalb ist jede Initiative, die das erfüllt, mehr als willkommen.«

Wenngleich viele der regelmäßigen Besucher Mitglieder der jeweiligen Synagoge sind, gibt es dennoch auch eine gewisse Fluktuation. »Wir sind eine gesamte Gemeinde, wir nutzen das volle Angebot. Ob ich abends in dieses oder jenes Beit Midrasch gehe, hängt manchmal von sehr praktischen Überlegungen wie dem Zeitpunkt des Maariv-Gebets und der Länge meines Arbeitstages ab«, meint ein Verwaltungsangestellter, der in seinem Torastudium neben der jüdischen Pflicht auch einen intellektuellen Ausgleich zum Arbeitsalltag sieht.

Die Errichtung der Bethäuser wurde durch einige erfolgreiche junge Geschäftsleute aus der Community finanziert. Die Investition hat das Potenzial, die Gemeinde nachhaltig zu verändern.

Lerngruppen Nahe der Taborstraße, der zentralen Verkehrsader des jüdischen Wien, gibt es seit mehr als einem Jahr das »Beit Midrasch Hafazat Hatora«, ein Lehrhaus des Wiener Sefardischen Zentrums. Auch hier lässt von außen nichts auf die Existenz, geschweige denn auf die Größe der Institution schließen.

Abends ist das Beit Midrasch zeitweise zum Bersten voll: Bei schwarzem Tee sitzen die Teilnehmer der unterschiedlichen Lerngruppen dicht gedrängt an Tischen, auf denen sich heilige Bücher stapeln. Von einem der Rabbiner ist die dramaturgisch gekonnt vorgetragene Pointe einer Toraauslegung des Rambam zu vernehmen, während aus einer anderen Ecke die Sprechmelodie des Talmudstudiums zu hören ist. Die Lingua franca hier ist Hebräisch, was man in beiden jüdischen Gymnasien Wiens bis zum Abitur als erste Fremdsprache lernt.

Rabbiner Albert Shamonov vom »Beit Midrasch Hafazat Hatora« weist darauf hin, dass sich die sprachliche Realität innerhalb der Gemeinde gewandelt hat. »Die Generation der Einwanderer sprach vorwiegend Bucharisch und Russisch, während die Jugendlichen heute miteinander eher Deutsch und Hebräisch sprechen.«

Das Beit Midrasch, das sich inzwischen enormer Beliebtheit erfreut, war ursprünglich als temporäres Ausweichquartier gedacht, um den jüngeren Gemeindemitgliedern während des Umbaus des Sefardischen Zentrums Raum für das regelmäßige Torastudium zu bieten. Das Angebot wurde sehr gut angenommen, und innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich daraus ein eigenes Lehrhaus, das sich als junge Erweiterung des Sefardischen Zentrums versteht. Und so wurde vor etwa einem Jahr mit der finanziellen Hilfe eines Vorstandsmitglieds der Sefardischen Gemeinde aus dem Provisorium ein dauerhafter Raum des Lernens und Gebets geschaffen.

Online-Präsenz
Das Aufblühen der bucharischen Gemeinde spiegelt sich auch in der Online-Präsenz wider. Die jüdischen Lernplattformen der Bethäuser verfügen über Facebook-Seiten und YouTube-Channels. Vorträge werden gefilmt und ins Netz gestellt, Tondateien über WhatsApp-Gruppen geteilt. Wer es einmal nicht schafft, dabei zu sein, kann das Wichtigste in Live-Videos auf Facebook mitverfolgen.

Die Verantwortlichen sehen ihre Aufgabe darin, auch in Medien, die gemeinhin mit Zeitvergeudung assoziiert würden, hochwertige Inhalte bereitzustellen. Doch nichts ersetze die Anwesenheit beim Lernen, besonders wenn man auch mittelfristig Fortschritte machen möchte, meint ein junger Mann, der eine der Seiten betreut und seinen Namen nicht in der Zeitung sehen möchte.

Die Präsenz auf Social-Media-Kanälen motiviere aber all jene, die in der Regelmäßigkeit des Torastudiums noch nicht so gefestigt seien, das nächste Mal wieder vorbeizukommen. Die Internetpräsenz bringe nachweislich auch neue Interessenten zu den Schiurim. Die Inhalte werden primär auf Deutsch ins Netz gestellt, weil es hier, anders als auf Hebräisch und Englisch, relativ wenig gibt und die Nachfrage groß ist.

Es tut sich also einiges im jüdischen Wien – einer Einheitsgemeinde, die, obwohl sie nur etwas mehr als 10.000 Mitglieder zählt, über eine im europäischen Vergleich exzellente Infrastruktur verfügt. Einzig das Thema Sicherheit bremst bei manchen den Enthusiasmus. Immer wieder kursieren Geschichten von Übergriffen und Beschimpfungen, und es ist zu hören, man spüre mehr Unsicherheit als noch vor fünf Jahren. Deshalb meint eine jener Frauen, die in den 70ern Wien zu ihrer neuen Heimat machte: »Wir bleiben hier, aber unsere Kinder sollen mittelfristig doch lieber nach Israel oder Amerika gehen.«

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