Ukraine

Beten und helfen

Geöffnet: die Hauptsynagoge in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Ukraine

Beten und helfen

Wie sich das Gemeindeleben nach mehr als zwei Monaten Krieg gestaltet

von Daniela Prugger  07.05.2022 22:44 Uhr

In diesen Frühlingstagen Anfang Mai sind es Spaziergänger und nicht Soldaten, die sich in den Straßen und auf den Plätzen der ukrainischen Hauptstadt Kiew tummeln, Fotos von blühenden Tulpen machen, die Sonne genießen.

Details, die daran erinnern, dass sich die gesamte Ukraine seit zwei Monaten im Krieg befindet und dass die Stadt wenige Tage zuvor während des Besuchs von UN-Generalsekretär António Guterres von russischen Raketen beschossen wurde und eine ukrainische Journalistin dabei ums Leben kam, rücken in den Hintergrund: Betonbarrikaden auf den Gehwegen, Sandsäcke vor den Kellerfenstern, überklebte Straßenschilder, mit Sperrholz verbarrikadierte Apotheken oder das für die Millionenstadt ungewöhnliche Ausbleiben des starken Verkehrs.

Freiwillige unterstützen Geflüchtete und helfen bei der Rettung von Verletzten.

»Wir haben in diesem Land vieles überlebt, befinden uns seit acht Jahren im Krieg und haben als Nation schon viele Herausforderungen überstanden«, sagt Josef Zissels (76), der Vorsitzende der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinden der Ukraine. Die heiße Phase der Kämpfe sei zumindest in Kiew vorbei.

Dafür, seine Frau und seine jüngere Tochter aus der Republik Moldau zurückzuholen, sei es aber noch zu früh. »Erst nachdem die beiden in Sicherheit waren, habe ich mich auf meine Arbeit konzentrieren können. Es gab auch in Kiew Beschuss, Gebäude wurden beschädigt. Aber das kann man nicht vergleichen mit Orten wie Tschernihiw, Charkiw und erst recht nicht mit Mariupol, wo Tausende Gebäude zerstört wurden.«

RÜCKKEHR Die freiwilligen Helfer in den Gemeinden arbeiten an mehreren Fronten: Sie unterstützen in der Beratung von Geflüchteten, vermitteln Hilfsgüter und helfen, Verletzte und vulnerable Gruppen zu retten. Schätzungen zufolge ist mittlerweile eine Million der geflüchteten Ukrainer aus dem Ausland zurückgekehrt. Doch viele von ihnen stehen vor dem Nichts, haben Freunde oder Verwandte und häufig auch ihre Jobs verloren.

Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Aber so wie der Rest des Landes hofft Zissels, dass das Leben in der Ukraine, und dazu zählt auch das aktive jüdische Leben, irgendwann wieder sicher ist. Vor Ausbruch des Krieges zählte die jüdische Gemeinde geschätzt 60.000 Mitglieder – mittlerweile ist die Hälfte in andere Landesteile oder ins Ausland geflohen, darunter viele Rabbiner. Deshalb wurden die meisten der 30 jüdischen Bildungseinrichtungen geschlos­sen oder ins Internet verlegt.

»Wenn wir über die Anzahl der Bildungseinrichtungen und die vielen Aktivitäten unserer Gemeinde sprechen, ist die Ukraine im Vergleich zu anderen postso­wjetischen Staaten einzigartig«, sagt Yaakov Bleich. Er ist seit 1990 einer der Oberrabbiner der Ukraine und seit mehr als zehn Jahren Rabbiner der Kiewer Hauptsynagoge im Bezirk Podil. »Ich glaube, dass genau diese Bildung das Rückgrat unserer Gemeinde über die Jahre gestärkt hat.«

evakuierung Bleich, der sich zurzeit in seiner Geburtsstadt New York aufhält, hilft wie viele andere dabei, die Evakuierung oder betreute Wohnheime für ältere Menschen, insbesondere für Holocaust-Überlebende, zu organisieren. »Wir haben – und das war sehr, sehr mühsam – ein wichtiges Programm zur vorübergehenden Umsiedlung nach Ungarn begonnen. Wir versuchen, den Menschen, die nach Budapest kommen, ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen. Das alles ist vorübergehend, die Menschen sollen aber in dieser Zwischenzeit in der Lage sein, Arbeit zu finden und ihre Kinder zur Schule zu schicken«, sagt Bleich.

»Es ist sinnlos, es ist verrückt – dieser ganze Krieg und diese Bombardierung und dieses Töten ohne Grund.«

Oberrabbiner Yaakov Bleich

»Es ist sinnlos, es ist verrückt – dieser ganze Krieg und diese Bombardierung und dieses Töten ohne Grund.« Bleich hofft darauf, dass die russischen Truppen irgendwann einsehen, dass sie es nicht schaffen werden, die Ukraine zu erobern. »Sie sollen uns unser eigenes freies, demokratisches Leben lassen und nach Russland zurückgehen.«

Zissels geht hingegen davon aus, dass sich die Kämpfe noch über etliche Jahre hinziehen werden. Er hat Russland, die Ukraine und ihre politischen Eliten über viele Jahre als Dissident kennengelernt. »Diese beiden Länder haben sich in den vergangenen 30 Jahren völlig unterschiedlich entwickelt«, so Zissels.

In den 70er- und 80er-Jahren arbeitete er mit jüdischen und demokratischen Untergrundbewegungen in der Sowjetunion zusammen und verbrachte deshalb mehrere Jahre im Gefängnis. »Die Ukraine ist heute nicht perfekt – es gibt viele wirtschaftliche und politische Probleme. Aber die Ukraine ist ein freies Land, und unsere jungen Menschen wurden in diese Freiheit hineingeboren. Wir werden sie mit aller Macht verteidigen, auch wenn Putin und die russische Führung das russische Imperium wiederherstellen wollen.«

DEUTSCHLAND Doch gerade weil Putin ebendiese Idee noch immer offen kundtut, gerade weil Menschen in Städten wie Mariupol seit Wochen auf eine Evakuierungsmöglichkeit warten, und gerade weil Ukrainer täglich getötet, vergewaltigt und nach Russland verschleppt werden, seien die Diskurse, die in Deutschland zuletzt auch von Intellektuellen wie »Emma«-Herausgeberin Alice Schwarzer geführt wurden, für ihn unverständlich, sagt Zissels.

»Deutschland hat einen Schuldkomplex gegenüber Russland, ich würde sogar Stockholm-Syndrom dazu sagen. Und das, obwohl durch die Nazis und Faschisten im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine mehr Menschen ums Leben gekommen sind als in Russland«, so Zissels.

Die Hälfte der Gemeinde ist in andere Landesteile oder ins Ausland geflohen.

Erst Anfang der Woche hat Russlands Außenminister Sergej Lawrow erneut für Aufregung gesorgt als er im italienischen Fernsehsender »Rete 4« die russische Kriegsbegründung wiederholte und sagte, dass in der Ukraine Nazis am Werk seien.

»Wir sehen, dass es sehr schwierig für Deutschland ist und es lange braucht, seine Position zu ändern. Und wir sind sehr dankbar, dass es seine historischen Komplexe langsam überwindet«, so Zissels. »Aber warum ist es so schwierig zu erkennen, dass wir es sind, die angegriffen werden? Es handelt sich um eine sehr asymmetrische Situation mit einem zynischen, brutalen Aggressor und einer Ukraine, die in der zivilisierten Welt leben will.«

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