Es hat eher Seltenheitswert, dass aus einer Straße, die nach einem notorischen Rassisten und Antisemiten benannt ist, mit einem Schlag eine wird, die eine Judenretterin ehrt. Im Brüsseler Stadtteil Uccle kamen am Sonntag bei strahlendem Sonnenschein rund 300 Menschen zusammen, um der offiziellen Umbenennung der Rue Edmond Picard in Rue Andrée Geulen beizuwohnen.
Wer den alten Namen bei Google Maps eingibt, wird zumindest in Brüssel nicht mehr fündig. Seit November 2024 schon ist die Umbenennung vollzogen. Die Anrainer der Straße mussten neues Briefpapier bestellen und ihre Personalausweise auf dem Rathaus aktualisieren lassen. Nur wenige, so heißt es, hätten dagegen protestiert.
Der Verfassungsrechtler, Schriftsteller und sozialistische Politiker Edmond Picard (1836-1924) war einer der führenden Juristen Belgiens seiner Zeit. Er beriet König Leopold II. und setzte sich für die Rechte von Arbeitern ein. Doch Picard war auch Hardcore-Antisemit, profilierte sich mit seiner »Rassenlehre« schon vor dem Aufkommen der Nationalsozialisten als solcher. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderte er in Büchern, Texten und Reden den Ausschluss von Juden aus dem öffentlichen Leben - zum Schutz der »Reinheit der arischen Rasse«, wie er schrieb.

Zur Affäre um den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus in Frankreich meinte der Zeitgenosse Picard: »Es ist mir egal, ob er schuldig ist oder nicht. Ich werde nie Partei für einen Juden ergreifen.« Auch über andere seiner Ansicht nach »rassisch Minderwertige«, wie die Einwohner der damals von Belgiern brutal ausgebeuteten und unterdrückten Kolonie Kongo, äußerte er sich abschätzig.
Als Lehrerin brachte sie hunderte jüdische Kinder vor den Nazis in Sicherheit
Dass sein Name bis heute trotzdem Straßenschilder in Belgien ziert, ist jedoch wenig verwunderlich in einem Land, das erst in den letzten Jahren begonnen hat, sich intensiver mit seiner blutigen Kolonialvergangenheit in Zentralafrika vor dem Ersten Weltkrieg, bei der Millionen von Menschen ums Leben kamen, auseinanderzusetzen.
Mit Andrée Geulen ehren die beiden Brüsseler Gemeinden Uccle und Ixelles, die sich die bisherige Edmond-Picard-Straße teilen, künftig eine Heldin, die während der deutschen Besatzung Belgiens im Zweiten Weltkrieg Teil eines Netzwerks von Frauen war, das mutig Widerstand gegen die Nazis leistete.
Der jungen Lehrerin und ihren Mitstreiterinnen gelang es, Hunderte jüdischer Kinder vor der SS und ihren Schergen zu verstecken, bei Pflegefamilien unterzubringen und so vor der Deportation in die Todeslager zu bewahren. Rund 25.000 Juden, darunter viele Kinder, wurden zwischen 1942 und 1944 allein aus Belgien deportiert; 95 Prozent von ihnen wurden ermordet. Doch anders als in anderen von Deutschland besetzten Ländern versteckten mutige Belgier mehr als 5.300 jüdische Kinder, die das Grauen überlebten. Andrée Geulen war eine dieser Heldinnen.

Für viele Waisenkinder wurde Andrée Geulen zu einer zweiten Mutter
Als einiger ihrer Schüler an der Gatti-Gamond-Grundschule gemäß den Auflagen der NS-Besatzer einen gelben Stern tragen mussten, empörte sich die Andrée Geulen und bat die Eltern der jüdischen Schüler, ihre Kinder ohne das Zeichen in die Schule zu schicken. Als einige das aus Angst vor Repressalien ablehnten, bat die Lehrerin alle Schüler, während des Unterrichts bei ihr Schürzen zu tragen, die den Stern verdeckten, um so die jüdischen Kinder nicht zu stigmatisieren.
Nachdem die Nazis ab 1942 mit den Verhaftungen gegen Brüsseler Juden begonnen hatten, zog Geulen mit Billigung der Schulleiterin in das Internat der Schule ein und versteckte dort jüdische Kinder. Im Mai 1943 führte die Gestapo eine nächtliche Razzia durch und nahm die jüdischen Kinder fest. Außer sich vor Wut schleuderte Geulen den NS-Männern den Satz entgegen: »Wieso führen Sie Krieg gegen jüdische Kinder?«
Die Katholikin ging in den Untergrund und begann, jüdische Familien zu warnen. Sie nahm Kontakt zur Untergrundorganisation »Jüdisches Verteidigungskomitee« auf und mietete sich unter dem Pseudonym Claude Fournier gemeinsam mit der Jüdin Ida Sterno in einer Wohnung ein. Mit zehn weiteren Mitstreiterinnen gelang es den Frauen, zahlreiche jüdische Kinder und Jugendliche unter falschem Namen in nichtjüdische Familien oder Einrichtungen zu vermitteln.
Schoa-Überlebender Abramowicz: »Sie beschützte uns«
Auch Marc Abramowicz, einer der letzten heute noch lebenden Kinder, die von Geulen gerettet wurden, war zur Umbennung der Straße gekommen. Dem Lokalsender BX1 schilderte er seine Erinnerungen an sie: »Eines Tages holte man mich und meinen Bruder ab. Eine nette Frau von etwa 20 Jahren, an die ich mich nur vage erinnere, denn ich war damals erst sieben Jahre alt, nahm uns mit. Wir stiegen in den Zug und fuhren mit ihr nach Jamoigne in den Ardennen. Sie war unglaublich nett. Sie beschützte uns und sagte uns, dass alles in Ordnung sei, dass unsere Eltern uns vielleicht besuchen würden, auch wenn das natürlich nie passiert ist.«
Auch der Nahostkonflikt ist nicht weit
Ida Sterno wurde 1944 von den Nazis festgenommen, deportiert und ermordet. Geulen hingegen überlebte. Nach dem Krieg spürte sie die geretteten Juden wieder auf und versuchte, sie mit ihren leiblichen Eltern zusammenzuführen. Doch viele waren zu Waisen geworden. Andrée kümmerte sich weiter um sie. Zahlreiche Überlebende sahen die Retterin als eine zweite Mutter an.
Geulen, die 2022 in Ixelles im Alter von 100 Jahren starb, wird von Israels Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geführt. Wegen ihrer Heldentaten war sie ab 2007 zudem Ehrenbürgerin des Staates Israel. Auch ihrer Heimatgemeinde Ixelles in Brüssel verlieh ihr zum 100. Geburtstag diese Auszeichnung.

Der damalige Bürgermeister von Ixelles, der Grüne Christos Doulkeridis, hatte 2023 die Umbenennung der Rue Edmond Picard zu Ehren Geulens vorgeschlagen. Die Straße verläuft durch ein recht vornehmes Viertel. Damit das Vorhaben realisiert werden konnte, mussten sich zwei Gemeinderäte von unterschiedlicher politischer Couleur einigen, was im politisch zerklüfteten Brüssel, das seit den Wahlen vor 15 Monaten keine Regionalregierung mehr hat, nicht immer selbstverständlich ist.
Von der Angst jüdischer Studierender an Brüsseler Hochschulen
Andrée Geulens Heldentum war und ist Konsens in der Stadtgesellschaft. Bei der Zeremonie am Sonntag waren auch Angehörige ihrer Familie anwesend. Zwei Urenkel Geulens enthüllten eine Erklärtafel, die direkt unter dem Straßenschild angebracht ist und Interessierten die Begründung für die Umbenennung liefert.
Zahlreiche Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Brüssel nahmen an der Umwidmungsfeier teil. Auch der Nahostkonflikt spielte in die Reden hinein. Als Uccles Bürgermeister Boris Dilliès auf den wachsenden Antisemitismus im Land und darauf hinwies, dass Juden sich heute wieder fragten, ob sie an Brüsseler Universitäten, die eigentlich den Werten der Aufklärung verpflichtet sind, noch willkommen seien, gab es Buhrufe.

Die galten offenbar Dilliès und nicht der von ihm beschriebenen Lage an den Hochschulen. Insbesondere die größte Brüsseler Uni, die ULB, war zuletzt Schauplatz zahlreicher antiisraelischer Proteste, Besetzungen und Boykotte von israelischen Partnerinstitutionen gewesen. Als ULB-Rektorin Annemie Schaus als Ehrengast bei der Umbenennungsfeier begrüßt wurde, gab es lautstarke Unmutsbekundungen einiger Anwesender.
Doch der Zorn der Familienangehörigen der Geehrten galt Dilliès. Die beiden Töchter Geulens, Anne und Catherine Herscovici sowie deren Kinder und Enkel, gaben im Anschluss eine Stellungnahme heraus, in der sie Dilliès der »Instrumentalisierung« ihrer Mutter bezichtigten.
Mit seinen Worten habe der Uccler Bürgermeister Schaus »in den Schmutz gezogen«, ohne sie namentlich zu erwähnen, beklagten die Angehörigen. Eine solche Polemik habe »bei dieser Veranstaltung absolut nichts zu suchen« gehabt, fügten sie hinzu. »Wir waren dort, um eine Frau zu ehren, Herr Dilliès hat eine andere beleidigt. Wir waren dort, um einen Moment des Glücks und der Erinnerung zu teilen. Wir sind erschüttert daraus hervorgegangen«, so die Erklärung.

Dennoch wolle man nur das Positive in Erinnerung behalten. »Wir wollen uns an das Wiedersehen, die Freundschaft, die richtigen Worte, die geteilten Emotionen, die Urenkelkinder, die das Tuch zurückzogen, um die Gedenktafel zu enthüllen«, erklärten sie. Anne Herscovici ist selbst bei den Grünen in Ixelles aktiv.
Wie sie waren auch andere Mitglieder der linken Organisation »Union Progressiver Juden Belgiens« (UPJB), darunter auch von Geulen Gerettete, gekommen, um die Umbennung zu feiern. Die Katholikin Geulen, die 1948 mit Charles Herscovici einen Juden ehelichte, der wie sie im Widerstand gegen die Nazis gewesen war, trat nach dem Krieg der Kommunistischen Partei Belgiens bei.
Würde sie noch leben, so ihre Enkelin Agnès Burniat, würde sich die alte Dame heute mit voller Kraft für die Rechte der Palästinenser in Gaza einsetzen. »Sie wäre heute Nachmittag gekommen, um für das palästinensische Volk zu demonstrieren«, sagte Burniat dem Sender BX1 mit Verweis auf eine fast zeitgleich stattfindende Großdemonstration propalästinensischer Gruppen in Brüssel, an der rund 70.000 Menschen teilnahmen.
Was in Gaza passiere, sei unerträglich, so die Geulen-Enkelin. Ihre Großmutter »hätte das genauso unerträglich gefunden wie das, was während des Zweiten Weltkriegs geschehen ist. Sie war eine Frau, die sich für die Belange aller einsetzte. Wir, ihre Enkel und Urenkel, wollen das weitergeben.«
»Jusqu’au bout«, bis zum Ende
Andere Teilnehmer der Umbennungszeremonie waren da dezidiert anderer Meinung und fanden Vergleiche zwischen dem Holocaust und der Situation in Gaza geschmacklos. Während der Reden der Honoratioren kam es gelegentlich zu Zwischenrufen, bei denen ein Teilnehmer immer wieder auf Gaza und die Palästinenser verwies.
Die Feierlichkeiten in der neuen Andrée-Geulen-Straße blieben dennoch im Großen und Ganzen würdig. Ein Chor der UJPB stimmte zum Schluss zwei Lieder an, das jiddisch-amerikanische Liebeslied »Tumbalaika« und Georges Moustakis Klassiker »Sans la nommer« von 1969, in dem die »permanente Revolution« angeprießen wird und die linken Revolutionäre ihren Weg »jusqu’au bout« verfolgen, also konsequent bis zum (bitteren) Ende. Viele Anwesende stimmten ein, obleich sich wahrscheinlich nicht alle von ihnen mit den besungenen sozialistischen Idealen identifizieren können.
Doch die Person der tapferen Heldin Andrée Geulen repräsentiert einen Konsens, auf den sich fast alle Belgier verständigen können. Anders als beim Nahostkonflikt, der die belgische Gesellschaft - die Brüsseler ganz besonders - immer mehr spaltet.